aviso 2 | 2015
Böhmen und Bayern
Colloquium
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nen man nachgerechnet hatte, dass sie doch schon wenige Tage älter als
15 Jahre waren. Der Befehl lautete nämlich, dass alle Männer von Lidice –
und als ein solcher galt, wer über 15 war – an der Mauer des Gehöfts der
Familie Horák zu erschießen seien. (Was hätten eigentlich diese völlig
ungerührt und kalt rechnenden Bürokraten des Todes mit jemandem
gemacht, der exakt am 10. Juni 1942, demTag der »Strafaktion« gegen
das Dorf Lidice, seinen 15. Geburtstag gefeiert hätte?) Die Vollstrecker
dieser Vergeltungsmaßnahme für das Attentat auf Heydrich bewiesen,
dass sie die Lektionen ihres Reichsprotektors perfekt verinnerlicht hat-
ten. Sie lauteten, siehe oben, totale Kontrolle und vollständige Vernich-
tung, und schon allein deshalb durfte es kein zufälliges Übersehen, kein
gnädiges, generöses, über Leben und Tod herrschaftlich bestimmendes
Davonkommenlassen geben.
»Von alledem hat Reinhard nichts mehr erfahren, und wenn dennoch
Lidice immer in einemAtemzug mit seinemNamen genannt wird, kann
ich dies nur als Folge einer geschickten Propaganda bezeichnen.«
Gummiband der Perspektive also! Ich hasse diesen Satz von Bohumil
Hrabal, obwohl ich normalerweise jeden seiner Sätze liebe, jeden ein-
zelnen. Auch in diesem Fall wird man zwar sagen müssen, er hat recht,
er sagt, was Sache ist, er spricht, worüber man sprechen kann (der Vater
des Philosophen Ludwig Wittgenstein gründete übrigens die »Schöne
Poldi« in Kladno, und der Onkel von Heimito von Doderer baute das
Zweigwerk in Komotau), alles hängt am Gummiband der Perspektive,
aber man wird wohl genauso gut die Richtigkeit dieses Satzes hassen
dürfen. Warum? Weil er Darstellungen wie diese möglich macht:
»Man stieß bald auf ein Bergarbeiterdorf, das nur 110 Einwohner zählte.
100 von ihnen waren nur gemeldet. Es war Lidice. Endlich hatten wir
einen Anhaltspunkt. Festgestellt wurde augenblicklich, daß sie [sic!]
hier Agenten aufgehalten hatten. Erregung und Unruhe waren gewachsen.
Gewalt ist das letzte Wort. Das Dorf Lidice wird vernichtet. Die Männer
werden erschossen, die Frauen ins Gefängnis verbracht, die Kinder in
Heime ins Reich transportiert.«
Diejenige, die solches schrieb, war die Witwe des Reichsprotektors, war
Lina Heydrich. 30 Jahre nach den Geschehnissen in Prag und Lidice
hat sie jene nun schon dreimal zitierten Ungeheuerlichkeiten zu Papier
gebracht … Papier ist nämlich nicht nur geduldig,
Papier muss sich manchmal genauso erniedrigen,
beschmutzen und schänden lassen wie Menschen.
Man konnte in den 1970er Jahren wissen oder ohne
die geringsten Schwierigkeiten eruieren, wie viele
Einwohner Lidice tatsächlich gehabt hat. Man
musste nicht schreiben »110« und überdies be-
haupten, die Kinder von Lidice seien »in Heime ins
Reich« transportiert worden. Längst war bekannt,
dass von den 105 Kindern des Dorfes 82 in dem
polnischen Lager Chelmno mit Auspfuffgasen um-
gebracht worden waren. Wenn man solches trotz-
dem schreibt, funktioniert man das Gummiband
seiner Perspektive zu einer Zwille der Verhöhnung
um und schießt den Opfern die unerträglichsten
Zynismen mitten ins Gesicht. Aber auf Verhöhnung
scheint diese schwarze Witwenschrift es ja angelegt
zu haben. Allein schon wie sie daherkommt. Mit
dem Hochzeitsfoto des Ehepaares Heydrich auf
dem Umschlag, dazu in roten Lettern der Buch-
titel »Leben mit einem Kriegsverbrecher«. Lässt
sich das – gerade in Kombination mit der fami
lienalbenhaften Arglosigkeit des Fotos – anders
verstehen als ein zynisch-schnippisches »Und wenn
schon!«? Nicht umsonst genießt dieses Elaborat
in rechtsradikalen Kreisen den Status einer Art
»braunenMauritius«, begehrt auf der ganzenWelt,
teuer gehandelt im Internet. Bleibt eigentlich nur
mehr die Frage: Wer druckt so etwas?
Bernhard Setzwein
, geboren 1960 in München,
lebt seit 1990 in Waldmünchen an der baye-
risch-böhmischen Grenze. Zu seiner Böhmen-Trilo-
gie gehören die Romane »Die grüne Jungfer«
(2003), »Das seltsame Land«(2007) und »Der neue
Ton« (2012). Am 6. Juni 2015 kommt Bernhard
Setzweins neues Theaterstück »Hrabal und der-
Mann am Fenster« in Regensburg zur Urauf-
führung.
Diese Doppelseite
Das auf den ersten Blick wie ein großer Park anmutende Gelände der Gedenkstätte Lidice bei Prag.
Wenige Mauerreste und ein Kreuz erinnern an den Ort, der im Juni 1942 ausgelöscht wurde. Die Sicherheitsbehörden
der nationalsozialistischen Besatzungsmacht hatten nahezu alle männlichen Einwohner ermordet und das Dorf als Teil der
Racheaktionen nach dem Attentat auf Reinhard Heydrich zerstört.
Foto: Peter Stehlik, Wikimedia Commons