aviso 2 | 2015
Böhmen und Bayern
Colloquium
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Kreuzweg für Lidice
Text: Katerˇina Tucˇková
I.
Die weite, sanft wellende Landschaft dehnt sich
vor mir in eine überschaubare Ferne; nur ab und
an unterbrechen Gebüsche die klaren Linien, die
den Strahlen der Sommersonne ausgesetzt sind.
Sie enden am Horizont, werden gekappt von der
sanften Rundung der Hügelkuppe.
Der grüne seidige Teppich, in den die Wiesen-
blüte ihre bunten Köpfchen webt, wird von träge
ziehendenWolkenschatten bewegt. Fast sieht es aus,
als wälze sich die Landschaft vor mir hin und her –
ein junges Mädchen, das zaghaft die Wirkung sei-
ner Reize erprobt. Und ich erliege und lasse mich
mit verhaltenemAtem locken, verführen – ich ver-
lasse den Weg, trete in diese jungfräuliche Land-
schaft ein, verlange danach mit ihr zu verschmel-
zen, Teil dieses Ganzen zu werden. Auf die Erde
niederzusinken, ins Gras, in diese frische duftende
Umarmung, und mit hinter demKopf verschränk-
ten Armen ins Himmelsazur zu schauen, mich am
Tirilieren der vorüberschnellenden Schwalben zu
freuen und dem zufriedenen Zirpen der Grillen.
Geradezu beruhigen lassen möchte man sich
von solch jungfräulicher Unschuld, wie sie dieser
Sommertag übers weite Gelände gezaubert hat.
Fast könnte man vergessen, dass das, was da vor
einem liegt, die Landschaft von Lidice ist.
Dass diese Jungfräulichkeit nur erlogen ist,
wohl ersonnen und sorgfältig hergestellt von Dut-
zenden tödlichen Händen. Dass kein unschuldiges
Mädchen vor einem liegt, sondern eine schwer ge-
prüfte Frau, deren Schoß man das Leben entrissen
hat. Eine Landschaft der Abtreibung.
II.
In dieser Landschaft steht ein einsamer Birnbaum.
Ich bin der Birnbaum.
Und bin schon mehr als hundert Jahre alt.
Ich sehe verdorrt aus, verkrüppelt, bin nicht einmal
allzu groß. So habe ich immer schon ausgesehen,
und glaubt mir, gerade dieser meiner Nichtigkeit
verdanke ich, dass ich noch immer hier stehe. Ich
knarre und gebe Zeugnis mit leiser Stimme – ich
bin an diesem Ort hier das letzte Lidicer Leben.
Ich allein habe den 10. Juni 1942 hier überdauert.
Ich bin Geschichte.
DIE ZWILLE DER VERHÖHNUNG
oder
Lidice und das Erinnern
Text: Bernhard Setzwein
»Alles hängt am Gummiband der Perspektive.«
Bohumil Hrabal,
»Die schöne Poldi«
I.
DAS ERINNERN an Lidice muss beginnen mit demErinnern an Rein-
hard Heydrich. An denMann, der die Wannseekonferenz im Januar 1942
leitete, mithin also an entscheidender Stelle für die Bereitstellung einer
reibungslos funktionierenden Logistik sorgte, um jenes sechsmillio
nenhafte Morden ins Werk zu setzen, das die Nationalsozialisten men-
schenverachtend und zynisch die »Endlösung der Judenfrage« nannten.
Als »stellvertretenden Reichsprotektor« sehen manche in Heydrich den
zweiten Mann innerhalb der Hierarchie der NS-Gewalt- und Greuel-
herrschaft gleich hinter dem Führer. Dieser weder kalt- noch eis-, son-
dern einzig steinherzig zu nennende Kriegsverbrecher und Schreibtisch-
Massenmörder (Eis läßt sich erweichen, Stein nicht), nahm sich für sein
Herrschaftsgebiet, das Protektorat Böhmen undMähren, vor, die »totale
Kontrolle über die eroberten Bevölkerungen« auszuüben und die »völ-
lige Vernichtung aller kulturellen, politischen und rassischen Elemente,
die sich nicht mit der nationalsozialistischen Weltanschauung verein-
baren lassen«, strikt durchzuführen (Robert Gerwarth in seiner Hey-
drich-Biographie).
»Alle, die so reden und schreiben, können sich gewiß nicht vorstellen, daß
Reinhard Heydrich tatsächlich ein ganz anderer Mensch gewesen ist.«
»Alles hängt am Gummiband der Perspektive«, schreibt Bohumil
Hrabal als Schlusssatz seiner Erzählung über »Die schöne Poldi«,
jenem Stahlwerk Leopoldine in Kladno, wo nicht nur Hrabal zwischen
1949 und 1952 schuftete, sondern nur wenige Jahre vor ihm neunMän-
ner aus Lidice, die man beinahe bei der vollständigen Liquidierung des
Dorfes vergessen hätte, weil sie nämlich in den der »Schönen Poldi«
zuliefernden Kohlegruben von Kladno gerade ihre Nachtschicht ab-
leisteten. Natürlich entdeckte man das »Versehen« und erschoss die
Männer den Tag darauf, ebenso wie jene zwei Halbwüchsigen, bei de-
Katerˇina Tucˇková
wurde 1980 in Brünn geboren,
heute lebt sie wechselweise in Prag und Brünn.
In ihrem Roman »Die Vertreibung der Gerta
Schnirch« (Tschechisch: »Vyhnání Gerty Schnirch«)
greift sie den Brünner Todesmarsch im Mai 1945
auf. Sie erhielt dafür den Magnesia Litera Preis
2010.