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aviso 2 | 2015
Böhmen und Bayern
Colloquium
am kulturellen Leben der tschechischen Gemeinde, spielte
aber auch für deutsches Publikum. Sein formell meisterhaf-
tes dichterisches Werk, geprägt durch einen hohen ethischen
Anspruch, ist im Grunde erst in München entstanden. Ins
Deutsche wurden seine Gedichte aber nur vereinzelt über-
tragen. 1991 zog Kryl mit seiner Frau nach Waldkirchen, in
die Nähe der tschechischen Grenze. Der plötzliche Tod holte
ihn allerdings in München ein – er starb an einem Herzin-
farkt im Krankenhaus Rechts der Isar.
Die Stadt, in der ich glücklich war
Noch aus dem mährischen Ostrava, früher Ostrau, wo sie
mit örtlichen Theatern zusammenarbeiteten, kannten sich
Karel Kryl und der Schriftsteller und Kinderbuchautor Ivan
Binar (*1942). 1971 wurde Binar wegen seiner Texte zu einem
Jahr Gefängnis verurteilt. Nach der Unterschrift der Charta
77 zwang ihn 1977 die Geheimpolizei, das Land zu verlassen.
Über Wien kam er 1983 nachMünchen – in die Franz-Joseph-
Straße 41 –, wo er eine Anstellung beimRFE bekam. Zurück
nach Tschechien ging er 1994 gemeinsam mit dem Sender.
»München mag ich sehr«, sagt er heute, »es ist die Stadt, in
der ich glücklich war.« Nach München kehrte er noch ein-
mal als Stipendiat der Villa Waldberta zurück und schrieb
hier am Roman »Sedm kapitol ze života Václava Netušila«
(2000, auf Deutsch: »Sieben Kapitel aus dem Leben von
Václav Netušil«), in dem er u. a. seine Exilerfahrung verarbeitet.
Kein Warteraum, in dem wir sitzen und warten,
bis es zu Hause platzt
Der Schriftsteller und Publizist Ota Filip (*1930) hat in Tsche-
chien ebenfalls eine Gefängnisstrafe abgesessen: 1970 verfasste
er einen Protestbrief gegen die Anwesenheit der sowjetischen
Armee und wurde daraufhin zu eineinhalb Jahren Haft ver-
urteilt. 1974 zwang die Geheimpolizei auch ihn zum Aussie-
deln und er entschied sich für München. Weil er bereits in
den 60er Jahren Kontakte mit der deutschen Szene geknüpft
hatte – seine Bücher waren bereits vor seiner Ausreise
auf Deutsch erschienen –, befand er sich in einer anderen
Situation als seine Kollegen. Der S. Fischer Verlag bot ihm
eine Lektorenstelle an und er schrieb u. a. für die F.A.Z.
oder Die Welt. Er hat sich in die deutsche Umgebung voll
integriert – einige seiner Romane schrieb er auf Deutsch –;
gleichzeitig hielt er den Kontakt zur tschechischen Gemein-
de aufrecht. Bereits 1974 wurde er zum freien Mitarbeiter
des RFE. Die Entscheidung für ein Leben in Exil in Bayern
reflektiert Filip in seinen bislang nur auf Tschechisch er-
schienenenMemoiren »Osmý cˇili nedokoncˇený životopis«
(2007, auf Deutsch »Der achte oder unvollendete Lebens-
lauf«): »Vor allem sagten wir uns, dass der Aufenthalt in
der Emigration kein Übergangszustand ist, dass Mün-
chen kein Warteraum ist, in dem wir sitzen und warten,
bis es zu Hause platzt, dass wir nach Bayern gekommen
sind, in ein Land mit anderen Traditionen, einer anderen
Kultur und einer anderen Sprache, und dass wir Bayern
so akzeptieren müssen, wie es ist, und dass wir uns davor
hüten werden, uns mit dem damals typischen Gerede der
tschechischen Emigranten zu erschöpfen und zu beunru-
higen, das ich von Anfang an in der tschechischen Kneipe
›Bei Kelly‹ in Schwabing erlebt habe...« 1995 zog Filip aus
München weg aufs Land, zuerst nach Grafenaschau und
dann nach Murnau, wo er bis heute lebt.
Von Protzigkeit und Langeweile durchdrungen
Die Überschneidungen der tschechischen Kulturszene
mit dem deutschsprachigen Leben der Stadt waren spar-
tenabhängig: Diejenigen, die in ihrer Kunst keine sprach
liche Hürde überwinden mussten, schlüpften schnell in
die neue Umgebung. Eine Zwischenposition hat dabei
Roman Erben (*1940), Dichter, Essayist und bilden-
der Künstler. Sein dichterisches Werk ist auf Tschechien
gerichtet (ausschließlich hier erscheinen seine Gedicht-
bände), sein malerisches Schaffen wird europaweit und
in den USA ausgestellt. Nach München kam er 1980 und