aviso - Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst in Bayern - page 31

|31 |
aviso 2 | 2015
Böhmen und Bayern
Colloquium
Wanderung
Text: Jakuba Katalpa
Stille. Plötzlich, wie ein Aufschrei, inmitten des Waldes ein paar
Obstbäume. Ein Kirschbaum, Apfelbäume, Pflaumenbäume; bei der
zerfallenden Mauer ein verkrümmter Birnbaum. Sie wachsen hier in
einer stillen Harmonie, im dichten Jungholz der vergessene Johannis-
beerstrauch und der wilde, verlassene Flieder.
Menschenspuren.
Er nähert sich langsam, Schritt für Schritt, er will sich selbst über-
listen und sich an den Namen des Dorfes erinnern, ohne in die Wander-
karte zu schauen, die gefaltet in seiner Tasche steckt. Er atmet hastig,
stockend; das Dorf liegt oben am Hang, und dorthin zu kommen hat
ihm zu schaffen gemacht, die ganze Zeit hatte er gegen den Gedanken
ankämpfen müssen, dass er aufgibt, zurück geht ins Tal und auf den Bus
wartet, der ihn wieder zum Hotelzimmer bringt, zu einer Tasse Kaffee
mit Morgenzeitung.
Als er dann beim Aufstieg auf die Mauern stieß, die früher die
einzelnen Felder voneinander abgrenzten, war er aufgelebt und hatte
Mut gefasst; wenn er es bis hinauf schaffen würde, hatte er sich gesagt,
wird er sich zur Belohnung eine Zigarette gönnen.
Jetzt steht er an der Stelle, wo früher ein Obstgarten war (an den
Namen des Dorfes kann er sich immer noch nicht erinnern), und schaut
hinauf in die Baumkronen, der Kirschbaum ist vor ein paar Wochen
verblüht, seine Krone ist übersät mit kleinen grünen Kügelchen, ähn-
lich wie die der Apfelbäume.
Er steht wie erstarrt, hat seine Hand in der Tasche der Windjacke,
und erst als er die Zigarettenschachtel ertastet, erinnert er sich, dass
er rauchen wollte. Das Feuerzeug macht Klick und mit dem schar-
fen Geschmack des Tabaks taucht in ihm der Name des Dorfes hoch:
Ludwigsbrunn.
***
Für denWeg entlang der Grenze hat er sich gut gerüstet. Die Füße
stecken in festen Schuhen, seine Hose ist aus einem supermodernen
Stoff; er hat sie in einem dieser hinterwäldlerischen Läden erstanden,
die überall aus dem Boden sprießen. Die Jacke hat ihm seine Toch-
ter gekauft, von ihr ist auch das Handy, aber er war nicht in der Lage
gewesen, zu erlernen, wie man es bedient. Das ein-
zige, was er sich gemerkt hat, ist, dass er mit ihr
verbunden wird, wenn er zwei bestimmte Tasten
hintereinander drückt.
Er hat versprochen, dass er sie jeden Abend
anruft.
Im Rucksack ist Ersatzkleidung, außerdem
Konserven, ein Messer und ein leeres Notizbuch.
Seine Papiere sind sorgfältig in eine Plastiktüte
gewickelt und liegen ganz zu unterst. Auch sein
letztes Buch hat er dabei, ebenjenes, über das die
Rezensenten so hergefallen sind. Er ist sich nicht
völlig im Klaren, was er damit vorhat: es rituell
verbrennen oder vergraben. Er könnte es auch von
Grund auf umschreiben oder den Tieren des Wal-
des amAbend daraus vorlesen, gesetzt den Fall, er
sollte welchen begegnen. Der Titel war bezeichnend,
»Der Wanderer«, und passte also durchaus zu sei-
nem Fußmarsch. Zunächst hatte es ihn beschwert
(»Thomas Müller ist übergeschnappt«, hatte einer
der Kritiker geschrieben, »was wir in seinemBuch
lesen, stammt eher aus der Feder eines selbstverlieb-
ten Graphomanen denn eines etablierten Autors«),
aber dann hatte er sich an diese Schwere gewöhnt.
In seiner wasserdichten Kleidung und den
Bergstiefeln fühlte er sich unantastbar, zugleich
eingesponnen, wie eine Larve imKokon. Er rauchte
und tippte die Asche in eine kleine Grube, die er
in die Erde gehöhlt hatte; seinenWeg sollten viele
dieser kleinen Gräber säumen, in denen eine oder
zwei Kippen lagen.
Jakuba Katalpa
, geboren 1979 in Pilsen, ist Autorin
und bildende Künstlerin.2012 erschien ihr
Roman »Neˇmci.Geografie zráty« (»Die Deutschen.
Geografie eines Verlusts«), für den ihr der
Josef-Škvorecký-Preis verliehen wurde. Darin setzt
sie sich mit der Geschichte einer Sudetendeut-
schen Familie auseinander.
Foto: Jik Jik, Wikimedia Commons
Diese Doppelseite
Wie ein verwunschener Platz im Wald wirken die Reste der Kirche und des Friedhofs der ehemaligen
Ortschaft Plöß /Pleš im Bezirk Domažlice / Taus. Im Sommer 1945 begann die Vertreibung der deutschen Bevölkerung. Heute wei-
sen entlang der Wanderwege mancherorts Informationstafeln auf die »verschwundenen Dörfer« hin.
1...,21,22,23,24,25,26,27,28,29,30 32,33,34,35,36,37,38,39,40,41,...52
Powered by FlippingBook