|32|
aviso 2 | 2015
Böhmen und Bayern
Colloquium
Ruinen. Aufzeichnung aus dem Grenzland
Text: Marek Šindelka
Vaterland
Ich sehe all die Grenzen, die der Mensch auf die Erdoberflä-
che gezeichnet hat. Eine merkwürdige Sache. Als hätte die
menschliche Denkart sich der Landschaft aufgeprägt. Gren-
zen sind ein Grundelement menschlichen Denkens. Genau
wie die Vorstellung von einem Feind. Von jenen anderen –
die nicht sind wie wir, den Fremden. Die Grenze ist ein Ge-
danke. Nichts als eine immaterielle politische Abstraktion,
wegen der sich im Laufe der Geschichte Milliarden vonMen-
schen ermordet haben. Eines der besten Beispiele dafür, wie
der Mensch die Welt mit seinen Idealen »bearbeitet« und
welche Macht das Wort haben kann, sobald es sich mit der
entsprechenden Energie auflädt. Wie viele Menschen haben
sich allein in den letzten Jahrzehnten wegen des Wortes
»Vaterland« gegenseitig erschlagen?
Jemand hat mir eine Geschichte erzählt, von einem Solda-
ten aus einem fernen, wohl asiatischen Land; die Feinde hat-
ten ihn im Grenzgebiet gefangen genommen und zum Tod
verurteilt. Am Tag vor der Hinrichtung bat der Gefangene
seine Wächter, noch einmal sein Vaterland sehen zu dürfen.
Die Wächter willigten ein und führten ihn in Fesseln zu dem
einige Stunden entfernt gelegenen Grenzstrich. Dort irgend-
wo blieben sie stehen und wiesen mit der Hand: Hier ist dein
Vaterland. Der Soldat fiel auf die Knie, berührte den Boden,
küsste die Erde und beim Anblick der Hügel und Bäume
rundum brach er in Tränen aus. Er nahm Abschied von dem
Land, für das er gekämpft hatte und für das er nun sterben
sollte. Da lachten die Wächter laut auf, und einer sagte, sie
hätten sich geirrt, das hier sei nicht die Grenze, sie liege erst
hinter der nächsten Hügelkette und er müsse daher noch ein
Stück weiterlaufen. Hinter der nächsten Höhe aber wieder-
holte sich alles. Beim dritten Mal küsste der Soldat die Erde
nicht, er sah auf die Landschaft, die mit einem Mal so über-
raschend alltäglich erschien, er sah kein Vaterland, keine
Heimat, kein Feindgebiet, keine Grenze, die es wert gewesen
wäre, dass man jemanden dafür tötet. Die Wächter lachten
ihn immer noch aus, spornten ihn an, Abschied zu nehmen
von seinem Vaterland, doch der Soldat nahm sie gar nicht
mehr wahr. Am nächsten Morgen exekutierten sie ihn im
Namen ihres Vaterlandes.
Gedanke
Angeblich dauert es sieben Jahre, bis sich die Zellen des
menschlichen Körpers erneuern. Bis alle Materie, aus der wir
geschaffen sind, sich von ihrer Vergangenheit gereinigt hat.
Wie lange reinigt ein Landstrich sich von seiner Vergangen-
heit? Ich reise durch das böhmische Grenzgebiet. Das Wasser
in den Bächen schmeckt nach Eisen, ist rötlich, rostig. Von
den Dörfern ist nur noch der Grundriss zu sehen. Steinerne
Linien im Boden. Jemand hat alle Häuser dicht über dem
Boden abgeschnitten, die Mauerreste mit Moos überzogen.
Ich gehe zwischen den grasüberwachsenen Gräbern umher,
am Umriss der Kirche entlang, scheu dort vorüber, wo sich
einst der Altar befand. Über der Ruine die eingefrorene
Detonation von Baumkronengeäst.
Hier entlang führt die Grenze, man muss sie bewachen, mit
Türmen bestücken, an ihr entlang das Land umpflügen, glät-
ten, damit darauf die geringste Spur eines jeden sichtbar
wäre, der versucht, auf die andere Seite zu kommen. Die
Grenze ist ein Gedanke, den man nicht überschreiten darf,
an dem entlang Hunde bellen und die scharfe Munition der
Maschinengewehre.
Kalter Krieg
Schon lange wird hier nicht mehr geschossen, Stacheldraht
und Wachtürme sind verschwunden. Ganze Dörfer sind
verschwunden. Die Menschen sind fort. Fast scheint es,
dass sie nie hier gelebt haben. Als hätte jemand in erlo-