aviso - Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst in Bayern - page 26

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Jeder sah jedem in die Küche, wenn nicht in die Hose
Wie in den 50er Jahren die tschechische »Kleinstadt« Mün-
chen aussah, beschreibt in seinen Erinnerungen »Das Wort
und die Welt« Jaroslav Dresler (1925–1999), in den Jahren
1957–1990 Leiter der tschechoslowakischen Kulturredakti-
on des RFE: »München ist immer noch ein Konglomerat
von mehreren Kleinstädten, die die moderne City umgeben.
In einer solchen wohnen wir. [...] Gehen wir über einen der
Höfe, schon sind wir in der Lamontstraße, die in den 50er
und 60er Jahren eine tschechische Straße war. Die meisten
Blocks der Wohnhäuser hatte der Radiosender gemietet. Im
ersten Haus [an der Ecke mit der Possartstraße] wohnte
im Erdgeschoss Miloš Havel und im Nachbarhaus fingen
die Wohnungen des Radios an. [...] Jeder sah jedem in die
Küche, wenn nicht in die Hose. In Kürze waren wir uns
gegenseitig widerlich. Nur die Menschen der 1. Republik ha-
ben die Noblesse der früheren Jahre nicht verloren.«
Das Interesse des heimischen Publikums war gering
Das tschechische soziale und kulturelle Leben in München
hatte bereits früh zwei Zentren: Zum einen im Haus der
Begegnung in der Rumfordstraße, wo es Konzerte, Lesungen
und Kinderveranstaltungen gab, und zum anderen in der
KatholischenMission um die St. Stephanskirche in der Thal-
kirchner Straße 11, die bis heute aktiv ist. Die Berührungen
und Kontakte der Mitarbeiter des RFE mit den deutschen
Bewohnern der Stadt blieben spärlich, was unter anderem
daran lag, dass die Tätigkeit des Radios für die Münchner
nicht sichtbar und hörbar war; die Sprache war unverständ-
lich, die Themen blieben fremd. Typisch ist Dreslers Erinne-
rung an die Woche der tschechischen Kultur inMünchen im
Jahr 1964, organisiert vom Übersetzer Franz Peter Künzel:
»Das Interesse des heimischen Publikums war gering, so dass
bei den meisten Veranstaltungen die Angestellten von RFE
überwogen. Zur Woche der tschechischen Kultur kam nach
München eine ziemlich große Gruppe, Hrabal, Hrubín, Nor-
bert Frýd und einige weitere, es wurde Theater gespielt und
Filme gezeigt. Das erste Mal tauchte hier auch der Jüngling
Václav Havel auf, der stotternd seine Texte las.« Das Interesse
wuchs erst im Zusammenhang mit dem Prager Frühling.
Die zweite Emigrationswelle
Nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes
in die Tschechoslowakei am 21. August 1968 kam es zu einer
zweiten starken Emigrationswelle: Die Menschen verließen
das Land aus Angst vor oder infolge von Repressionen oder
auch aus Unlust, in dem Land zu bleiben, wo wieder jegli-
che Freiheit beschnitten wurde. In München wurden eini-
ge bedeutende tschechische Exilverlage gegründet: 1975–
1996 der Ein-Mann-Verlag »Poezie mimo domov« (»Poesie
außerhalb der Heimat«) von Daniel Strož in der Max Wönner
Strasse 31 und der 1980–2000 bestehende Verlag »Arkýrˇ«
(»Erker«) von Karel Jadrný und Rozina Jadrná-Pokorná.
Im Jahre 1988 eröffnete in der Schellingstraße 20 in den
Räumen von »Arkýrˇ« Jaroslava Binarová eine tschechische
Buchhandlung, die sich zu einem kleinen tschechischen Kul-
turzentrum und auch einer Anlaufstelle für die gegen Ende
der 80er Jahre doch häufiger ankommenden Touristen aus
Tschechien entwickelte.
Noch im Jahr 1968 verließ die Tschechoslowakei der Schrift-
steller und Essayist Josef Jedlicˇka (1927–1990). Nach 1948
durfte er aus politischen Gründen sein Ethnologiestudium
nicht beenden; aus Prag zog er in das nordböhmische Litví-
nov, früher Leutensdorf, um und verdiente seinen Unterhalt
als Fabrikarbeiter, Erzieher und zuletzt doch als Ethnologe
im örtlichen Museum. Seine Debütnovelle »Kde život náš je
v pu˚li se svou poutí« (1966; auf Deutsch »Unterwegs« 1969),
ein ungeschöntes, autobiografisch geprägtes Zeugnis über das
Leben im industriellen Nordböhmen, wurde zu einem litera-
rischen Ereignis der 60er Jahre. InMünchen angekommen –
er wohnte zuerst in der Siegfriedstraße in Schwabing und seit
1971 in der Pasinger Josef-Lang-Straße – wurde er Redakteur
aviso 2 | 2015
Böhmen und Bayern
Colloquium
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