aviso 2 | 2015
Böhmen und Bayern
Colloquium
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»Das, mein lieber Freund, ist eine böse Geschichte.
Stehen Sie auf, Mensch,
imNamen des Königs, Ihr
seid arrestiert wegen Landstreicherei
.«
Dann packte er mich am Kragen und führte mich
zurück nach Höchstädt an der Donau. Unterwegs
kaufte er mir für zehn Pfennig Birnen und nannte
mich einen »
armen Kerl
.«
Morgendliche Ruhe herrschte in den Gassen des
Städtchens. Hinter dem Burggraben erhob sich
ein altes Burggebäude in die Höhe. Wir gingen
um den Graben herum und kamen an der Vor-
derfront zu stehen, wo unter dem Bayerischen
Wappen knapp geschrieben stand:
»Amtsgericht
7
,
Arrest und Untersuchungshaft!«
Über einen altertümlichen Hof, auf demGras wuchs,
traten wir beim Kerkermeister ein. »
Vagabund
«,
sagte der Gendarm knapp.
»Armer Kerl«
, sagte der Kerkermeister, »zieh dir
die Schuhe aus. Hier hast du den Schlüssel vom
Lager. Du musst links über den Hof. Dort machst
du auf, nimmst dir eine Wolldecke und Holzschuhe.
In der Burg darf man nicht mit Schuhen herum-
laufen. Komm bald zurück, in der Zwischenzeit
wirst du Suppe bekommen, damit dir warm wird.
Dann werde ich dich einschließen und dir eine
Bibel in die Zelle legen. Du wirst ganz oben im
Turm eingesperrt, weil man die anderen Räume
schonen muss. Das Gebäude hier ist nämlich ein-
sturzgefährdet. Also los!«
Ich kam nach kurzer Zeit zurück und machte mich
über die vorbereitete Suppe her. Seine Frau kam
hinzu und bedauerte mich zutiefst. Sie fragte mich,
warum ich bei Nürnberg nicht Hopfen gesammelt
hätte, dann hätte ich mir was dazu verdienen kön-
nen. Danach führte mich der Kerkermeister über
eine knarrende Wendeltreppe in die angekündigte
Zelle und trug andächtig die Bibel hinter mir her.
»Lies nur,
armer Kerl
«, sagte er während er mich
einschloss, »und bessere dich!«
Eine Stunde später kam er wieder und brachte mir
einen Krug Bier.
»Trink, du musst zumVerhör auf der anderen Seite
des Gebäudes. Du musst dich stärken!«
Ich stärkte mich und wir machten uns auf denWeg.
Zuerst runter zum Kerkermeister, wo ich erneut
meine Schuhe anziehen musste, weil es notwen-
dig war, beimAmtsgericht in Schuhen aufzutreten,
wie es die bayerische Gerichtsordnung vorschreibt.
Dann führte er mich wieder amKragen, wie es die
Gerichtsordnung ebenfalls vorschreibt. Er klopfte
an und wir traten ein. Wieder erklang das Wort
»
Vagabund
«, und ein entgegenkommender, netter,
dicklicher Herr nickte mir freundlich zu, wobei er
blauen Dampf aus einer großen Pfeife entließ. Vor
ihm stand ein Krug Bier und ein tönerner Maßkrug.
»Arbeiten, lieber, junger Freund«, sagte er wohl-
wollend, »freudig arbeiten, von Ort zu Ort gehen,
sich Geld verdienen und seine Heimat nicht ver-
lassen. Wären Sie mal schön in Böhmen geblieben,
wären Sie jetzt nicht vor Gericht. Damit Sie aber
als Ausländer unser Gerichtswesen verstehen, dafür
braucht es keine besondere Begabung. Ich bin ein
»
Amtsrichter
«, und das, was Sie hier sehen ist ein
»
Amtsgericht
«. Ich verhöre Sie, erwäge, schreibe
es auf, im »
Amtsgericht
« werden Sie auch einsit-
zen. Das angefertigte Protokoll über Ihr Verhör
schicke ich mit der Post, zusammen mit den ande-
ren Schriftsätzen, die wir wöchentlich zum Kreis-
gericht
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nach Dillingen schicken. Dort wird man
die Sachen lesen, durchdenken und sich abermals
mit mir beraten, sobald sie die Akten einmal in der
Woche wieder zu uns zu uns zumAmtsgericht schi-
cken. Hier werde ich Sie erneut vernehmen, auf-
schreiben, alles erwägen und der ganze Fall wird
ganz glatt ablaufen. Sie wissen doch, dass Dillin-
gen ungefähr 45 Kilometer
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von hier entfernt ist,
die Post braucht nur zwei Tage dorthin. Ich werde
also wiederum die entsprechenden Ausführungen
demKreisgericht nach Dillingen senden, das wird
diese lesen, ermitteln, erneut erwägen und dann
erst Ihre Strafe festsetzen. Die werde ich Ihnen
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Höchstädt hatte nur
von 1879-1943 ein eigenes
Amtsgericht.
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In Dillingen gab und gibt es
auch nur ein Amtsgericht.
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Höchstädt ist von Dillingen
nur ca. 10 Kilometer entfernt.