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aviso 2 | 2015
Böhmen und Bayern
Colloquium
Marcus Rudolf Axt
ist seit 2013 Intendant
der Bamberger Symphoniker
– Bayerische Staatsphilharmonie.
stattliche Zahl von gut 2500 Werken und so ge-
wissermaßen ein »Bamberger Kanon der Orches
termusik« auf Tonträgern. Auch diesen Schatz gilt
es zu heben und zu bewerten.
Da wir unsere
Recherchen nicht als »Geheim-
operation« führen, sprechen wir auch immer wie-
der mit ehemaligen Musikern und mit langjäh-
rigen Abonnenten – und staunten nicht schlecht,
als wir eines Tages einen Brief vorfanden, in
dem uns ein Freund unseres Orchesters die Pro-
grammzettel zweier Konzerte des Deutschen Phil-
harmonischen Orchesters Prag aus dem Januar
1945 überließ! Auch alte Schallplatten, zum Teil
Probe-Pressungen und Schellack-Editionen tau-
chen langsam aus Sammlungen, von Kellern und
Dachböden wieder auf und finden den Weg nach
Bamberg. So schließen sich mehrere Kreise: die
Komplettierung des Schallplatten- und Tonarchivs
der Bamberger Symphoniker, die Beweisführung
der Zusammenhänge zwischen dem Prager Vor-
kriegs- und Bamberger Nachkriegsorchester, die
historische Linie durch die Zeitläufte bis hin zum
Ständetheater des 18. Jahrhunderts.
Soviel ist bisher klar: Das Deutsche Philharmo-
nische Orchester in Prag, 1940 von den National-
sozialisten als Gegengewicht zur Tschechischen
Philharmonie aufgestellt, war bereits seit der
Annektierung der Tschechoslowakei 1938 in
Reichenberg, heute Liberec, unter den Namen
»Sudetendeutsche Philharmonie« tätig und war
dorthin direkt aus dem Orchestergraben des Pra-
ger Neuen Deutschen Opernhauses nach dessen
Schließung gekommen. Die Kulturmetropole Prag
hatte seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zwei
Opernhäuser mit eigenen Orchestern, ein tschechi-
sches und ein deutsches; beide Häuser teilten das
Repertoire unter sich auf und spielten die großen
symphonischen »Schwergewichte« gemeinsam.
So auch die Uraufführung von Gustav Mahlers
7. Symphonie 1908 unter der Leitung des Kom-
ponisten, die ca. 60 Musiker der Tschechischen
Philharmonie und 40 Musiker unseres Vorgän-
gerorchesters aus dem Deutschen Opernhaus ge-
meinsam aus der Taufe hoben.
Gemeinsame Wurzeln?
Es bleibt noch der Nachweis zu erbringen, inwie-
fern sich die Tschechische Philharmonie aus dem
erweiterten Orchester des Ständetheaters heraus
entwickelt hat – also ob dieser Klangkörper ge-
wissermaßen ein »Zwilling« der Bamberger Sym-
phoniker wäre? Beide Orchester hätten dann eine
gemeinsame Grundlage: das berühmte Ständethea
ter, das zu Zeiten von Mozart und Carl Maria von
Weber von europäischem Ruf war. Vor allem die
böhmischen Holzbläser genossen die Wertschät-
zung von Wolfgang Amadeus, seitdem die Spatzen
seinen »Figaro«, der in Wien durchgefallen war,
von den Prager Dächern pfiffen und er daraufhin
den Auftrag zur Komposition des »Don Giovanni«
erhielt. Dessen Uraufführung begründete gewis-
sermaßen den Mythos des böhmischen Klanges
und war der Start einer großen Musiktradition:
Namen wie Carl Maria von Weber, Richard Wag-
ner, Gustav Mahler, Alexander Zemlinsky, Erich
Kleiber, Otto Klemperer und George Szell stan-
den in Prag am Pult.
Offen bleibt zunächst
auch noch die Frage,
wie viele Musiker des Deutschen Philharmonischen
Orchesters Prag zu den Gründungsmitgliedern
der Bamberger Symphoniker zählten – mithin
also die Definition dessen, ob eine Tradition die-
ses Klangkörpers weiterlebt. In den nächsten Wo-
chen werden wir also Mitgliederlisten aus Prag
mit den Namen der Musiker unseres Orchesters
aus den Nachkriegsjahren abgleichen und weitere
Dokumente in den Archiven sichten. Unbeschadet
dieses Ergebnisses ist es aber wohl der Klang, die
böhmische Musiziertradition, die hier durch Ver-
wandlungen, Umbenennungen, Übersiedlungen
die Zeitläufte überdauert hat. Die Geschichte der
Bamberger Symphoniker könnte somit eine Art
Mikrokosmos der zentraleuropäischen Gesamt-
geschichte sein: Höfischer Beginn, bürgerlicher
Aufschwung, multikulturelle Kreativität der Jahr-
hundertwende, Krieg, Vertreibung und Neubeginn
wären dann bei diesem, heute bayerischen Orches
ter wie unter einem Brennglas wiederzuerkennen.