aviso - Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst in Bayern - page 22

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aviso 3 | 2015
RAUBKUNST UND RESTITUTION
COLLOQUIUM
Zwar ist der Künstler dieser Reliefkomposition
bislang unbekannt, doch konnte die unmittel-
bare Vorlage dazu in einem Stahlstich von Adrian
Schleich (1812–1894) nach Friedrich Christoph
Nilson (1811–1879) ermittelt werden, der 1848 von
einem Schiedsgericht als Jahresgabe des Münchner
Kunstvereins ausgewählt worden war. Der entspre-
chende Akteneintrag lautet: »Als Vereinsgeschenk
[des Münchner Kunstvereins] für das Jahr 1848
schlägt dasselbe [das Schiedsgericht] einen durch
Herrn Kupferstecher Adrian Schleich herzustel-
lenden Stahlstich nach einer vorgelegten Kompo-
sition zu Schillers ›Lied von der Glocke‹ von Herrn
Maler Nilson vor.« Der als Zeichner und Stecher
in München tätige Adrian Schleich war Schü-
ler des Schweizer Kupferstechers Samuel Amsler
(1791–1849), der von 1829 bis 1849 als Professor
an der Münchner Akademie der Bildenden Künste
wirkte. Friedrich Christoph Nilson hatte sich an der
Münchner Kunstakademie von Joseph Schlotthauer
(1789–1869), Julius Schnorr von Carolsfeld (1794–
1872) und Clemens von Zimmermann (1788–1869)
zum Historienmaler ausbilden lassen und war in
München an der Ausführung mehrerer, von Lud-
wig I. in Auftrag gegebener Freskenprogramme
beteiligt, darunter die Wandgemälde aus der
Geschichte der griechischen Unabhängigkeitsbe-
wegung im nördlichen Gang der Hofgartenarka-
den nach Kartons von Peter von Hess (1792–1871),
die Ausmalung des Treppenhauses der königlichen
Hof- und Staatsbibliothek nach eigenen Entwürfen,
die Gemälde an der Außenwand der Neuen Pina-
kothek nach Entwürfen Wilhelm von Kaulbachs
(1805–1874) sowie die Ausmalung des Pompeja-
nums in Aschaffenburg. Für das als Jahresgabe be-
stimmte Blatt »Lied von der Glocke« wendete der
Münchner Kunstverein die »bedeutende« Summe
von 5.940 florin auf, also immerhin fast 15 Prozent
des sich auf annähernd 40.000 florin belaufenden
Beitragsaufkommens.
DIE NACH DEM
Stahlstich »Lied von der Glocke«
geschaffene Tafel war am 25. November 1938 im
Rahmen der gezielt gegen Juden gerichteten Aktion
»Sicherstellung von Kulturgütern« von der Münch-
ner Staatspolizeileitstelle der Geheimen Staatspo-
lizei (Gestapo) in der Wohnung des Kaufmanns
Julius Davidsohn in der Widenmayerstraße 45/I
»sichergestellt«, also beschlagnahmt worden, zu-
sammenmit einer Suppenterrinemit Zitronenknauf
und Landschaftsdekor aus der Nymphenburger Por-
zellanmanufaktur, drei Farbstichen und fünf Ge-
mälden: Aelbert Cuyp, »Auf dem Eis«, Alexand-
er Josef Daiwaille, »Bauernhaus mit Kühen und
Schafen«, Otto Fedder, »Postkutsche in den Ber-
gen«, J. Kandler, »Bauersfrau mit Kopftuch«,
Monogrammist B.V.H, »Bildnis eines jungen
Mannes mit Zitrone«. Wie aus dem im Bayerischen Natio-
nalmuseum vorhandenen Gestapo-Protokoll hervorgeht, wa-
ren Julius Davidsohn und seine Frau Simone bei der Beschlag-
nahmeaktion selbst anwesend. »Als Schätzer« der Kunstwerke
war von der Gestapo der darauf spezialisierte Antiquar Lud-
wig Schrettenbrunner beigezogen worden, der bereits 1937
die »Freiwillige Versteigerung« der kompletten Einrichtung
des 1934 von der Bayerischen Politischen Polizei requirierten
Hauses von Thomas Mann in der Poschingerstraße 1 durch-
geführt hatte.
Im Jahr 1938, kurz vor Beginn der Beschlagnahmeaktionen,
hatte Adolf Wagner (1890–1944), der berüchtigte NSDAP-
Gauleiter von München, die Direktoren der Münchner
Kunstsammlungen zu einer Besprechung in das Polizei-
präsidium eingeladen, deren Ergebnis die Anordnung zur
Sicherstellung jüdischen Kulturgutes durch Gestapo-Beamte
war; an diesem Treffen hatte auch Johann (Hans) Buchheit,
von 1932 bis 1947 Direktor des Bayerischen Nationalmuse-
ums, teilgenommen. Nach der Beschlagnahmung befanden
sich die heute zum Bestand der Bayerischen Staatsgemälde­
sammlungen gehörenden – und inzwischen auch bereits in
oben
Detail aus S. 21 rechts mit einer Szene aus Schillers »Glocke«:
Meister mit Glocke
© Bayerisches Nationalmuseum München, Foto: Walter Haberland
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