aviso 2 | 2015
Böhmen und Bayern
Resultate
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»Man lebt nicht ohne Folgen ein
Jahrtausend zusammen«
Wie die jüngere Generation in Tschechien die
Geschichte der Sudetengebiete neu entdeckt
In den deutsch-tschechischen
Beziehungen gibt es
eine dritte Größe, die auf der bipolaren Achse keinen rechten
Platz hat. Die Rede ist von den sudetendeutsch-tschechischen
Beziehungen, die sich mit den deutsch-tschechischen nur be-
dingt überschneiden, denn die Sudetendeutschen lebtenmit den
Tschechen im Unterschied zu den Deutschen in ein und dem
selben Land. Es ergibt sich also ein trigonales Beziehungsfeld.
Ein Zwiegespräch zwischen den Generationen
Seit einigen Jahren ist ein interessantes Phänomen zu beob
achten: Von sich aus beginnen rein tschechische Initiati-
ven, sich mit den historischen und kulturellen Wurzeln der
Grenzgebiete, aus denen die Deutschen vertrieben wurden,
zu befassen. Dabei geht es um ein Schürfen und Freilegen
von verschüttetem Wissen zur Selbstvergewisserung an ei-
nemOrt, zu dem es von der eigenen (familiären) Geschichte
aus keinen Zugang gibt. In diesem Fall verläuft der Austausch
in die Vergangenheit. Es verkörpert das, was der Historiker
Karl Schlögel als »transtemporale Kommunikation« bezeich-
net: ein Zwiegespräch zwischen den Generationen und damit
auch zwischen den Lebenden und Verstorbenen. Man lebt
»eben nicht ohne Folgen [fast] ein Jahrtausend zusammen«,
schrieb schon in den dreißiger Jahren der bilinguale Prager
Publizist und Schriftsteller Paul Eisner.
Als der einstige
Bürgerrechtler und nachmalige Prä-
sident Václav Havel nach der politischen Wende 1989 seine
ablehnende Haltung gegenüber der Vertreibung der Sude-
Text:
Anna Knechtel
tendeutschen aus der Tschechoslowakei 1945 zumAusdruck
brachte, rief er damit bei einem Großteil seiner Landsleute
Unmut hervor. Dieser manifestierte sich auch in den offizi-
ellen Meinungsumfragen der vergangenen 25 Jahre. Wäh-
rend 1995 noch 52 Prozent der Befragten die Vertreibung
ihrer sudetendeutschen Landsleute als »gerecht« bezeich-
neten, befürworteten 2011 nur noch 42 Prozent der Befrag-
ten die Vertreibung.Die übrigen 58 Prozent vertreten unter-
schiedliche Haltungen zur Vertreibung der Sudetendeutschen.
Zusammen mit weiteren Anzeichen, z. B. dem sensatio-
nell guten Ergebnis von Karl Fürst Schwarzenberg bei der
Direktwahl zum tschechischen Präsidenten im Januar 2013,
obwohl er die Vertreibung der Sudetendeutschen 1945 als
»grobe Verletzung der Menschenrechte« bezeichnet hatte,
deutet sich eine Entwicklung an, die sich behutsam in Rich-
tung Verständigung und Empathie bewegt.
Ab 1995 durfte ich Zeugin dieser Entwicklung sein. Wäh-
rend meines sechsjährigen Aufenthalts in der Tschechischen
Republik, zunächst als Redakteurin von Radio Prag, dem
deutschsprachigen Auslandsdienst, dann als Referentin
des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds, auf Reportage-
Reisen oder Projektbesuchen, bei Gesprächen mit Kollegen
und Freunden, Ausflügen oder Begegnungen am Rande von
Diskussionsveranstaltungen und ähnlichen Gelegenheiten,
erlebte ich viele Beispiele für ein immer lebendiger werdendes
Interesse in Tschechien an den Sudetendeutschen und ihrem
Schicksal. Ein neues Bewusstsein dafür entstand, was der Ver-
lust anMenschen, Kulturlandschaften undWirtschaftskraft