aviso 2 | 2015
Böhmen und Bayern
Resultate
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damals sehr provokativ klingenden Titel
Sudety – Sudeten
bzw.
Sudetenland
über das entvölkerte Grenzgebiet des Lan-
des sollte die Bürger der Tschechischen Republik mit dem
Schicksal ihrer einstigen sudetendeutschen Mitbürger be-
kannt machen: «Wir wollen zeigen, dass dies eine Landschaft
voller Bedeutung ist, über die es sich lohnt nachzudenken.«
(Ondrˇej Mateˇjka). Ziel ist eine möglichst offene Reflexion
der Vergangenheit, denn diese gehöre »zu den Grundfertig-
keiten jeder freien Gesellschaft. Befreiung bedeutet (…), alle
Fragen zu erkennen, die unsere Vergangenheit offen gelas-
sen hat, und sich ihnen zu stellen.« Vortragsveranstaltungen
mit deutschen Politikern, gestaltete Unterrichtsstunden in
Schulklassen, mehrere Aufsehen erregende Publikationen
machten die bis heute aktive Gruppe bekannt und zu einem
anerkannten Kooperationspartner bei Bildungsveranstaltun-
gen und Dialogforen.
Eine ähnliche Initiative
entstand wenig später 1999 in
Brünn mit
Mládež pro interkulturní porozumeˇní [Jugend für
interkulturelle Verständigung]
, kurz M.I.P., die sich eben-
falls für die historisch-politische Aufklärung einsetzte, unter
anderem für eine Verurteilung des Brünner Todesmarsches
vom Mai 1945. Inzwischen wird in Brünn/Brno mit einem
Jahr der Versöhnung
[Rok smírˇení]
der Opfer auch der »ge-
walttätigen Vertreibung der Brünner Deutschen« gedacht.
»Ein schönes Fleckchen Erde
«
Dieses Ereignis hat 2009 in einem der Roman auch die junge
Autorin Katerˇina Tucˇková unter dem Titel
Vyhnání Gerty
Schnirchové [Die Vertreibung der Gerta Schnirch]
aufgegrif-
fen. Die Auseinandersetzung mit dem spannungsgeladenen
Verhältnis zu den Landsleuten deutscher Zunge und deren
Nachkriegsschicksal reizt außer ihr auch viele andere, vor
allem junge, tschechische Schriftstellerinnen und Schrift-
steller, z. B. Jaroslav Rudiš
(Grandhotel, 2006)
, Radka
Denemarková (
Ein schönes Fleckchen Erde
, 2006), Jan Tichý
(
Zweiunddreißig Stunden zwischen Hund und Wolf
, 2007),
Jaroslav Rudiš und Jaromír ’99 (
Alois Nebel
, 2012) oder
zuletzt Jakuba Katalpa (
Neˇmci [Deutsche]
, 2013). Einiges
davon wurde verfilmt, etwa die Graphic Novel
Alois Nebel
oder als Theaterstück aufgeführt, wie z. B. der Roman von
Tucˇková im Brünner Theater Feste oder Jan Tichýs Novelle
in einer Produktion des Cˇ inoherní Studio in Aussig/Ústí nad
Labem. Nicht nur den Brünner Todesmarsch, sondern auch
das Massaker an über 200 Personen im nordwestböhmi-
schen Postelberg hat
it
Trost
des Feldwegs
der junge Theaterautor Miroslav Bambušek auf
die Bühne gebracht. Mit großemErfolg wurde jüngst imRah-
men des Prager Theaterfestivals deutscher Sprache das Stück
führt, das ebenfalls ein blutiges
Verbrechen an Deutschen zum Thema hat.
2013 widmeten Organisatore
Festivals
ihr »woodstock« 2013 den Opfern der gewaltsa-
men Abschiebung nach demWeltkrieg, »ganz gewöhnlichen
Menschen, die sich oftmals nur dadurch schuldig gemacht
hatten, dass sie anderer Nationalität waren. An vielen Orten
in unserer Republik kam es noch nach dem Krieg zu Mor-
den, Gewalttätigkeiten und Ungerechtigkeiten an unschul-
digen Menschen. Habgier und Rache spielten dabei keine
geringe Rolle.«
Von den hellen Seiten der gemeinsamen Geschichte
Es sind aber zumGlück nicht nur die dunklen Seiten, die das
Interesse erregen. Aus den hellen Seiten der gemeinsamen
Geschichte schöpft der nun 95jährige Jirˇí Josef Otter, ein
evangelischer Theologe, der von dem Entschädigungsgeld
für seine Haftzeit im Protektorat ein Büchlein mit dem Titel
»Tschechen und Deutsche auch miteinander. Aus den hellen
Seiten der gemeinsamen Geschichte« herausgab.
Da waren auch
die vielen kleinen Begebenheiten des All-
tags, in denen zumAusdruck kommt, dass Sudetendeutsche
von Tschechen bedauert, vermisst, geschätzt werden. In einem
Landgasthaus wurde ich 2006 gefragt, ob ich eine »Cˇ eška«
sei. Auf meine Rückfrage, ob mit »Cˇ eška« eine Tschechin oder
eine Böhmin gemeint sei, was bekanntermaßen im Tschechi-
schen beides der Fall sein kann, reagierte der Wirt mit einem
Seufzen, wie schade es sei, dass die »Landsleute« weg muss-
ten. Eine ebensolche Reaktion erlebte ich, als ich auf einem
Friedhof die Grabstelle eines Vorfahren pachten wollte: Die
Gemeindeangestellte gab ihremBedauern Ausdruck, dass die
Sudetendeutschen nicht mehr da seien. Überhaupt halten die
alten deutschen Friedhöfe imGrenzgebiet ein seltsames Poten-
zial an Empathie zwischen Tschechen und Sudetendeutschen
bereit, was sich an den zahlreichen Friedhofsinstandsetzun-
gen ablesen lässt, die auch rein tschechische Bürgerinitiati-
ven durchführen wie z. B. im nordböhmischen Schemmel/
Všemily oder in Salnau/Želnava imBöhmerwald oder in Stu-
benbach/Prášily, ebenfalls im Böhmerwald. Es scheint, dass
Angelegenheiten wie die letzten Dinge des Menschen oder die
Schönheit einer Landschaft und die gemeinsame Sorge dafür,
entfremdete Menschen leichter zusammen führen, als das
Bemühen um einen durch und durch perfekten juristischen
Ausgleich. Das zeigen auch die vielen Initiativen, die sich
oder
OMNIUM
, das sich vor allem imBraunauer Ländchen/
Broumovsko mit seinen sieben wertvollen Kirchen und dem
gewaltigen Benediktinerstift engagiert. Ein kenntnisreiches
Buch zum Thema ist
Flurdenkmäler in unserer Heimat
, in
dem der Autor Karel Stein Geschichte, Hintergründe und
Bedeutung der dargestellten Wegkreuze, Kapellen und Ver-
söhnungskreuze in der Böhmischen Schweiz erläutert.
Die Gebärde der Zuwendung
Auf einer
dböhmen liegende Lau-
sitzer Ge
in makellosemDeutsch
und unter Verwendung der deutschsprachigen Ortsnamen
die Geschichte und Besonderheiten der Region erläutert. Auf
dieser Seite entdeckte ich etwa um das Jahr 2003 den Ein-