aviso 3 | 2014
Bayern-Südtirol
Colloquium
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In der Landwirtschaft führte die fortgesetzte Realteilung zu
einer Aufsplitterung der Nutzflächen in eine Vielzahl kleiner
Äcker und Parzellen. Diese brachten kaum Ertrag und ein
relativ hoher Anteil der nutzbaren Fläche ging zudem für
Grenzstreifen und Zufahrtswege verloren. ImZusammenhang
mit der Realteilung barg besonders der Kinderreichtum ein
hohes Armutsrisiko in sich. Zahlreiche Familien waren ver-
schuldet und die Folgen von Naturkatastrophen (Missernten)
oder Kriegen verschärften diese Krisensituation drastisch.
Staatliche Maßnahmen wie z. B. Ehebeschränkungen blieben
nahezu wirkungslos. Das Zusammenwirken der Folgen von
Überbevölkerung, Kleinbesitz und Armut blieb über Jahrhun-
derte wirksam und verhinderte eine spürbare Verbesserung
der sozialen und wirtschaftlichen Situation.
Ein Esser weniger am Tisch
Dadurch, dass zwischen Josefi und Martini (11. November)
mindestens ein Esser weniger am Tisch saß, konnten die
kärglichen Vorräte an Lebensmitteln geschont werden. Die
Unterrichtspflicht wurde bereits vonMaria Theresia 1774 für
Österreich und die unter habsburgischer Herrschaft stehen-
den Länder durch Unterzeichnung der »Allgemeine Schulord-
nung für die deutschen Normal-, Haupt- und Trivialschulen
in sämtlichen Kayserlichen Königlichen Erbländern« generell
eingeführt. Dies bedeutete für viele Familien eine Zäsur, entzog
es doch deren »kostengünstige« Arbeitskräfte und belastete
die ohnehin angespannte wirtschaftliche Lage. Das Gesetz
wurde in der Folge rasch gekippt und durch eine »Schul
besuchserleichterung« ersetzt. Kinder, die zum Lebensunter-
halt ihrer Familien beitragenmussten, besuchten lediglich die
Winterschule. Ab dem Jahre 1833 benötigten die Hütekinder
eine Bescheinigung (»Dispens«) über die Befreiung von der
Sommerschule.
Auf dem Hungerweg nach Süddeutschland
Was bei Othmar Franz Lang in seinem berührenden Büchlein
»Hungerweg« trefflich beschrieben ist, endet für seine Pro-
tagonisten aus dem Vinschgau zunächst auf dem Hütekin-
dermarkt zu Ravensburg. Es war dies eine lange und entbeh-
rungsreiche Reise. Zunächst galt es den 1508 Meter hohen
Reschenpass zu überwinden. Versammelt im Dorf, begleitet
von einemElternteil oder einem geistlichen Herren, machten
sie sich auf denWeg. Auf der Strecke bis zumReschen schlos-
sen sich nach und nach die Kinder aus allen Obervinschger
Orten an. Der zweite Tagesmarsch führte bis nach Prutz ins
Oberinntal, dann bis Pettneu oder St. Anton amArlberg. Am
dritten Tag ging es in sechs Stunden über den meist noch
schneebedeckten Arlberg. Den Weg bis Ravensburg legten
die Kinder innerhalb von acht Tagen zurück.
Ähnlich lange währte
die Reise derer, die zu den
Gesindemärkten nach Bayern aufbrachen. Die Route führte via
Reschen nach Imst, weiter über den Fernpass nach Reutte,
um zu den Märkten in Füssen, Kempten oder Kaufbeuren
zu gelangen. Als wichtigster Marktort für die Verdingung
der jugendlichen Saisonniers galt Kempten, der bereits 1796
bei Josef Rohrer Erwähnung findet. Bestätigung erfährt dies
u. a. auch durch Siegfried Laferton, einem profunden Kenner
der Hütekindersituation in Bayern. Seine Zulassungsarbeit –
»Tiroler Hütkinder in Bayerisch-Schwaben« – im Rahmen
eines Lehramtstudiums ist eine der raren Quellen, die hier
über verlässlich Auskunft gibt. Der studierte Volkskundler
lebt und arbeitet in Marktoberdorf.
EU-Projekt zur Migrationsgeschichte im Alpenraum
Das für dieses Geschichtsprojekt federführende Bauernhaus-
Museum im baden-württembergischen Wolfegg setzt sich in
einer interaktiven Dauerausstellung mit dem sozialgeschicht-
lichen Phänomen der über 300 Jahre andauernden »Schwa-
bengängerei« auseinander. Seit Frühjahr 2012 werden hier
die jüngsten Ergebnisse der mehrjährigen Forschungsarbei-
ten präsentiert. Im gleichen Jahr zog das Vintschger Museum
nach. In Kooperationmit demMuseum Schloss Landeck wird
in Schluderns das einfache Leben im Vinschgau und der Auf-
bruch in die Fremde thematisiert. Laut dem Südtiroler His-
toriker Andreas Paulmichl kamen die zahlenmäßig stärksten
Kindergruppen aus den Ortschaften Prad, St. Valentin, Graun
und Reschen. Ihr Ziel waren die Kindermärkte amBodensee,
wo sich die Buben und Mädchen als Hirten, Knechte und
Dienstmägde für den Sommer verdingten. Von 1834 bis 1917
sind an die 1.800 Vinschger Kinder in den oberschwäbischen
Dienstbotenverzeichnissen dokumentiert. Die Ausstellungen
in Wolfegg und in Schluderns sind eigentlich nur das öffent-
liche »Schaustück« der Forschungsarbeiten zu dem von der
oben
Trügerische Idylle. Die schroffen Seitentäler in Südtirol boten
wenig ertragreiche Nutzflächen.
©Südtirol Marketing/Helmuth Rier | Bauernhaus-Museum Wolfegg