aviso - Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst in Bayern - page 21

der Schweiz und Liechtenstein. Es waren die Zeiten bitterer Armut, die
viele Bewohner aus dem deutschsprachigen Alpenraum über Jahrhun-
derte hinweg dazu zwangen, ihren Broterwerb in der Fremde zu suchen.
Im 19. Jahrhundert erlebte diese saisonale Arbeitsmigration ihren
Höhepunkt. Die Not war so groß, dass selbst Kinder im Alter von 6 bis
14 Jahren über den Sommer nach Süddeutschland, primär ins Schwa-
benland und das nahe Allgäu, verschickt wurden.
Zur Arbeit in die Fremde
Zu Tausenden zogen sie vornehmlich aus den kargen Bergregionen in
die Gebiete nördlich des Bodensees. Diese so genannten »Schwabenkin-
der«, die daheim die blanke Not vom Tisch trieb, wanderten alljährlich
im zeitigen Frühjahr, meist um Josefi (19. März), in regelrechten Kinder-
zügen, oft begleitet von einem Erwachsenen oder einem kundigen Füh-
rer, über die noch schneebedeckten Alpenpässe zu den Gesindemärkten
in Oberschwaben und im Allgäu, wo sie vorwiegend an wohlhabende
Bauern vermittelt wurden. »Die meisten dieser guten Kinder sammeln
sich zur Marktzeit in der Reichsstadt Kempten, wo sie den Bauern um
die leidentlichsten Bedingungen zu Gebothe stehen. Sie folgen dann
ihren neuen Herren in das Kemptische, Königseck-Rothenfelsische und
Isnische Gebieth, in welchem die wegen ihrer guten Weide berühmten
Algauischen Alpen großentheils liegen.« Was der österreichische Volks-
kundler Josef Rohrer in seinem 1796 veröffentlichten Buch »Uiber die
Tiroler« nicht ohne ein gerüttelt Maß an Empathie beschreibt, ist ein
Stück Elendsgeschichte, die möglicherweise auch Ignatz Hamm aus Stilfs
im Vinschgau widerfuhr. Er hatte nach seinem beschwerlichen Fuß-
marsch von gut 220 Kilometern einen Dienstplatz in der Obergünzburger
Gegend bei demÖkonomFranz Josef Karg gefunden – als »Dienstbube«
vom 22. März bis zum 10. November 1867, wie dem Dienstboten- und
Gesellenregister der Marktgemeinde Obergünzburg zu entnehmen ist.
Besonders interessant ist der beigefügte Vermerk über gute Führung.
So wie den
Dienstbuben aus Stilfs traf es viele schulpflichtige Kin-
der und Jugendliche aus dem Vinschgau. Über mehrere Jahrhunderte
mussten diese den Sommer über ins Süddeutsche zum Arbeiten, um
ihren Familien zu Hause das Überleben zu sichern. Wann genau diese
temporäre Abwanderung begann, lässt sich nicht zweifelsfrei belegen.
Gesicherte Quellen für dieses Phänomen lassen sich derzeit erst für das
Ende des 18. Jahrhunderts identifizieren. Über die wesentlichen Beweg-
gründe indessen sind sich die Historiker einig.
Die Armut zu Hause
Ausschlaggebend war die Überbevölkerung der Region, die exponierte
ökonomische Situation der vorwiegend kleinbäuerlichen Bevölkerung,
relativ unfruchtbare Ertragsflächen und die Bodenknappheit. Hierzu sei
eine Statistik des Südtiroler Historikers Michael Lochmann angeführt,
die dies drastisch vor Augen führt: Demnach betrug im Jahre 1893 die
Bevölkerungszahl Tirols ca. 805000 Personen. Im selben Jahr wurden
14330 Tonnen Weizen geerntet. Dies ergibt pro Einwohner 49 Gramm
pro Tag. Zur Verschärfung dieser Verelendung trug der Kinderreichtum
im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert bei, der auf die Fortschritte
im Gesundheitswesen zurückzuführen ist. Familien mit über zehn Kin-
dern waren keine Seltenheit. Dazu kam die gängige Praxis der Erbfolge.
Im Vinschgau und im oberen Inntal wurde im Erbfall meist die Real-
teilung praktiziert – mit oft fatalen sozialen und ökonomischen Folgen.
aviso 3 | 2014
Bayern-Südtirol
Colloquium
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oben
Um Josefi fand am Hildegardplatz in Kempten der
wohl bedeutendste Hütekindermarkt in Bayern statt.
darunter
Bei aller Not – es gab auch heitere Momente.
Bauernhaus-Museum Wolfegg | Stadtarchiv Kempten | Bauernhaus-Museum Wolfegg
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