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Wir haben allerdings aus der Hirnforschung Hinweise, die
uns in eine bestimmte Richtung lenken. Die Neurogenese,
also das Entstehen von neuen Neuronen und Verbindungen
im Gehirn, lässt sich hauptsächlich an drei Kriterien fest-
machen: 1. Die Neuheit der Reize; 2. Ihr Reichtum und Viel-
falt, 3. Bewegung. Alle Bedingungen sind bei Museumsbesu-
chen erfüllt. Menschen, die das Museum verlassen, gehenmit
einem reicheren und weiter entwickelten Gehirn nach Hau-
se, umso besser, je häufiger sie sich mit Kunst beschäftigen.
Mehr noch: In der Hirnforschung ist außerdemnachgewiesen
worden, dass sowohl das Gehirn – auch in der »Hardware« –
sowie die Empathiefähigkeit sich signifikant weiterent
wickeln, wenn auch selbst-gestalterische Tätigkeiten, etwa
durch Kunstunterricht, erlernt werden.
Kunstrezeption wie eigenes Kunstschaffen kann also die
Entwicklung von eigenständigen, offenen und mitfühlen-
den Individuen fördern, die außerdem noch eine gute psy-
chische Gesundheit und erhöhte Chancen auf ein erfülltes,
langes Leben haben.
aviso:
Wenn das so ist, müsste das nicht weitreichende Konse
quenzen haben?Welche Rolle könnte aus Ihrer Sicht die Kunst
für eine weitere Entwicklung der Gesellschaft spielen?
De Muynck:
Für die Entwicklung der Gesellschaft wäre es von
großer Bedeutung, dass die Kunst die ihr gebührende Stellung
erfährt und den Raum bekommt, der ihr zusteht.
Kunst kann unmittelbar über ihre Inhalte, die Art der Dar-
stellung, sie kann über die verwendeten Farben berühren und
die Imagination und die kreativen Fähigkeiten entwickeln.
»Wahrheit als Schönheit« (Beuys) heißt Ästhetik im Sinne
von Aisthesis, heißt intensives sinnliches Erleben. Kunst regt
ungewohnte Sichtweisen und Darstellungen an und kann
Auch Vulnerabilität zeigt einen starken Zusammenhang zu
Emotionalität. Bei einer starken Vulnerabilität jedoch wird
die hohe Erregung eher erlitten und mit Angst, Wut, Depres-
sivität und Rückzugsverhalten verarbeitet, also im Sinne von
Verletzung. Dagegen dient bei den Museumsbesuchern die
hohe Emotionalität als Ressource und Antriebsquelle für
Selbstfindung und Weltwahrnehmung. Damit kann Kunst
als lebensbejahende Grundeinstellung der defensiven nega-
tiven Weltsicht und davon geprägten Verhaltensweisen der
eher zurückgezogenen, verletzlichen, kränkbaren Menschen
entgegengesetzt werden.
Ich möchte noch einen anderen interessanten Aspekt
erwähnen. Wir fanden bei denMuseumsbesuchern eine hoch
gesicherte Beziehung bezüglich eines höheren Grades von
»Einfühlungsvermögen, Mitgefühl und mitmenschlichem
Verhalten« (Emotionaler Reaktivität als Empathie-Form).
Der Hirnforscher Vittorio Gallese fand in Experimenten her
aus, dass Kunst betrachtende Menschen Bewegungen, die
auch implizit auf Bilder zu sehen sind, seien diese figurativ
oder abstrakt, unbewusst nachempfinden. Er konnte nach-
weisen, dass dabei imGehirn der motorische Cortex und im
Körper sogar leichte Muskelanspannungen aktiviert wurden,
d. h. die Betrachtenden vollführten unbewusst die Bewegun-
gen, die entweder dargestellt waren, aber auch solche, die
die Künstler etwa durch Pinselstriche vollführt hatten. Er
postulierte Spiegelneuronen, die uns dazu bringen, Gefühle
und emotionale Reaktionen bei anderen mitzuempfinden.
Das geschieht ganz unmittelbar, ohne Umweg über das Be-
wusstsein. Er sagt: »Diese Fähigkeit zur Empathie ist auch
die Grundbedingung für eine Interpretation der Kunst« und
»Wer sich nicht mit Kunst auseinandersetzt, wird nie verste-
hen, was es heißt ein Mensch zu sein.«
aviso:
Welche Folgerungen ziehen Sie aus diesen Erkenntnis-
sen? Können Museumsbesuche zur Therapie von Menschen
beitragen, die etwa an Depression leiden?
De Muynck:
Die letzte Frage lässt sich nicht direkt beantwor-
ten. Depression ist nicht per se eine Krankheit, sondern zu-
nächst eine Antwort auf aversive Lebensbedingungen oder
auf Verluste. Permanente Störbedingungen müssen syste-
matisch klinisch modifiziert werden. Kunst kann aber mit-
telbar und unmittelbar, mittelbar über die Gesellschaft und
unmittelbar durch Betrachtung und Gestaltung, zu Ent-
wicklung von Wohlbefinden beitragen. Sie ist in sich selbst
als Weltanschauung und Lebensorientierung eine Alterna-
tive zu krank machenden defensiven Selbstbeschränkun-
gen.
Unsere Studie zeigt Museumsbesucher als fröhliche, lebens-
bejahende, resiliente, interessierte, neugierige, zupackende,
risikobereite, einfühlsame, mitmenschlich orientierte und
nicht-depressive sowie nicht-störungsgefährdete Menschen.
Es ist berechtigt, darüber zu spekulieren, welche von zwei
Größen, die statistisch zusammenhängen, die primäre be-
dingende Funktion hat.