Table of Contents Table of Contents
Previous Page  32 / 52 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 32 / 52 Next Page
Page Background

|32|

Wir haben allerdings aus der Hirnforschung Hinweise, die

uns in eine bestimmte Richtung lenken. Die Neurogenese,

also das Entstehen von neuen Neuronen und Verbindungen

im Gehirn, lässt sich hauptsächlich an drei Kriterien fest-

machen: 1. Die Neuheit der Reize; 2. Ihr Reichtum und Viel-

falt, 3. Bewegung. Alle Bedingungen sind bei Museumsbesu-

chen erfüllt. Menschen, die das Museum verlassen, gehenmit

einem reicheren und weiter entwickelten Gehirn nach Hau-

se, umso besser, je häufiger sie sich mit Kunst beschäftigen.

Mehr noch: In der Hirnforschung ist außerdemnachgewiesen

worden, dass sowohl das Gehirn – auch in der »Hardware« –

sowie die Empathiefähigkeit sich signifikant weiterent­

wickeln, wenn auch selbst-gestalterische Tätigkeiten, etwa

durch Kunstunterricht, erlernt werden.

Kunstrezeption wie eigenes Kunstschaffen kann also die

Entwicklung von eigenständigen, offenen und mitfühlen-

den Individuen fördern, die außerdem noch eine gute psy-

chische Gesundheit und erhöhte Chancen auf ein erfülltes,

langes Leben haben.

aviso:

Wenn das so ist, müsste das nicht weitreichende Konse­

quenzen haben?Welche Rolle könnte aus Ihrer Sicht die Kunst

für eine weitere Entwicklung der Gesellschaft spielen?

De Muynck:

Für die Entwicklung der Gesellschaft wäre es von

großer Bedeutung, dass die Kunst die ihr gebührende Stellung

erfährt und den Raum bekommt, der ihr zusteht.

Kunst kann unmittelbar über ihre Inhalte, die Art der Dar-

stellung, sie kann über die verwendeten Farben berühren und

die Imagination und die kreativen Fähigkeiten entwickeln.

»Wahrheit als Schönheit« (Beuys) heißt Ästhetik im Sinne

von Aisthesis, heißt intensives sinnliches Erleben. Kunst regt

ungewohnte Sichtweisen und Darstellungen an und kann

Auch Vulnerabilität zeigt einen starken Zusammenhang zu

Emotionalität. Bei einer starken Vulnerabilität jedoch wird

die hohe Erregung eher erlitten und mit Angst, Wut, Depres-

sivität und Rückzugsverhalten verarbeitet, also im Sinne von

Verletzung. Dagegen dient bei den Museumsbesuchern die

hohe Emotionalität als Ressource und Antriebsquelle für

Selbstfindung und Weltwahrnehmung. Damit kann Kunst

als lebensbejahende Grundeinstellung der defensiven nega-

tiven Weltsicht und davon geprägten Verhaltensweisen der

eher zurückgezogenen, verletzlichen, kränkbaren Menschen

entgegengesetzt werden.

Ich möchte noch einen anderen interessanten Aspekt

erwähnen. Wir fanden bei denMuseumsbesuchern eine hoch

gesicherte Beziehung bezüglich eines höheren Grades von

»Einfühlungsvermögen, Mitgefühl und mitmenschlichem

Verhalten« (Emotionaler Reaktivität als Empathie-Form).

Der Hirnforscher Vittorio Gallese fand in Experimenten her­

aus, dass Kunst betrachtende Menschen Bewegungen, die

auch implizit auf Bilder zu sehen sind, seien diese figurativ

oder abstrakt, unbewusst nachempfinden. Er konnte nach-

weisen, dass dabei imGehirn der motorische Cortex und im

Körper sogar leichte Muskelanspannungen aktiviert wurden,

d. h. die Betrachtenden vollführten unbewusst die Bewegun-

gen, die entweder dargestellt waren, aber auch solche, die

die Künstler etwa durch Pinselstriche vollführt hatten. Er

postulierte Spiegelneuronen, die uns dazu bringen, Gefühle

und emotionale Reaktionen bei anderen mitzuempfinden.

Das geschieht ganz unmittelbar, ohne Umweg über das Be-

wusstsein. Er sagt: »Diese Fähigkeit zur Empathie ist auch

die Grundbedingung für eine Interpretation der Kunst« und

»Wer sich nicht mit Kunst auseinandersetzt, wird nie verste-

hen, was es heißt ein Mensch zu sein.«

aviso:

Welche Folgerungen ziehen Sie aus diesen Erkenntnis-

sen? Können Museumsbesuche zur Therapie von Menschen

beitragen, die etwa an Depression leiden?

De Muynck:

Die letzte Frage lässt sich nicht direkt beantwor-

ten. Depression ist nicht per se eine Krankheit, sondern zu-

nächst eine Antwort auf aversive Lebensbedingungen oder

auf Verluste. Permanente Störbedingungen müssen syste-

matisch klinisch modifiziert werden. Kunst kann aber mit-

telbar und unmittelbar, mittelbar über die Gesellschaft und

unmittelbar durch Betrachtung und Gestaltung, zu Ent-

wicklung von Wohlbefinden beitragen. Sie ist in sich selbst

als Weltanschauung und Lebensorientierung eine Alterna-

tive zu krank machenden defensiven Selbstbeschränkun-

gen.

Unsere Studie zeigt Museumsbesucher als fröhliche, lebens-

bejahende, resiliente, interessierte, neugierige, zupackende,

risikobereite, einfühlsame, mitmenschlich orientierte und

nicht-depressive sowie nicht-störungsgefährdete Menschen.

Es ist berechtigt, darüber zu spekulieren, welche von zwei

Größen, die statistisch zusammenhängen, die primäre be-

dingende Funktion hat.