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aviso 2 | 2018
KUNST = MEDIZIN
COLLOQUIUM
Die oben dargestellte Figur ist Fiktion. Die Szenerie ist
jedoch Realität: Durch den Expressionistensaal, in dem sich
die Sammlungen Gerlinger und Buchheim zu einer einmalig
dichten Schau des deutschen Expressionismus rund um die
Künstlergruppe »Brücke« vereinen, rollen seit drei Jahren
die »Moving Benches« von Jeppe Hein – weiße Museums
bänke mit schwarzer Lederpolsterung, die zehn Sekunden
nach Belastung gemächlich zu rollen beginnen, und damit
bei den meisten Erstnutzern Desorientierung, Irritation, Neu-
orientierung und schließlich Heiterkeit auslösen.
Ästhetische Transformationen
Dieser ästhetische Ansatz ist auch unser Leitbild für den Um-
gang mit dem 2007 verstorbenen Hausherren: Anlässlich
seines 100. Geburtstages in diesem Jahr haben wir originale
Raumeinheiten aus seinem jüngst abgerissenen Wohnhaus
in Feldafing in das Museum übertragen. Ziel des ganzen
Vorhabens ist es, denkmalwerte Ensembles weitestmöglich
in ihrer Originalsubstanz zu erhalten, der Öffentlichkeit zu-
gänglich zu machen und das Haus Buchheim als Keimzelle
des Museums der Phantasie erfahrbar zu machen. Der Emp-
fangsraum mit chinesischem Schreibtisch, Wiener Stühlen,
venezianischem Lüster und einer cartoonistischen Wandbe-
malung von Hans Fischer ist wirklich staunenswert; ebenso
das Esszimmer, das Buchheim, gemeinsam mit dem belgi-
schen Comicautor Maurice Rosy, dekorierte und im Laufe
der Jahrzehnte mit pikanten Eat-Art-Stücken anreicherte –
Marmeladengläsern, gefüllt mit pittoresken Essensresten.
Trotzdem lädt die Neuinszenierung im Sinne Buchheims
weniger zum ehrfürchtigen Betrachten als zum künstleri-
schen Mitspielen auf. Der Besucher kann hier eintauchen
in seine wundersame Sammlerwelt – und wird dabei un-
merklich selbst zu einemMuseumsexponat in einer Vitrine.
Er kann in ein raumgroßes Kaleidoskop eintreten und mit
einer Kurbel das Haus Buchheim immer wieder zerlegen und
zu neuen Kompositionen zusammensetzen.
Diese Wunderkiste ist letztlich eine Metapher für die trans-
formatorische Kraft der Kunst schlechthin. Ausgangspunkt
ist eine Krise, in diesem Fall Buchheims Tod und der Ab-
riss des Hauses. Die alte Ordnung ist zerstört. Buchheims
Vorgaben werden zu erratischen Monumenten, die der
lebendigen Neuordnung und der schöpferischen Neuinter-
pretation bedürfen. Derlei Prozesse gibt es auch im »echten«
Leben. Der Vorteil der ästhetischen Transformation ist, dass
dabei niemand Pleite geht, sich ein Bein bricht oder zu Tode
kommt. Denn alles findet in unserer Phantasie statt. In die-
sem Schutzraum des »Als ob« können wir uns gedanklich
und emotional fit machen für die Herausforderungen des
Lebens. Das Buchheim Museum lädt die Menschen dazu
ein, den Spielraum zu finden, den sie brauchen, um emotio
nal wie gedanklich neue Wege auszuprobieren – und ihr
Glück zu finden.
Dr. Daniel J. Schreiber
ist seit 2013 Direktor des Museum
der Phantasie (Buchheim-Museum) in Bernried am Starnber-
ger See.
© WON ABC / Buchheim Museum der Phantasie / Daniel J. Schreiber | Buchheim Museum der Phantasie / Daniel J. Schreiber
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»Moving Bench« von Jeppe Hein im Buchheim Museum.