aviso 2 | 2018
KUNST = MEDIZIN
COLLOQUIUM
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transzendenter Sinnfindung befriedige. Durch intensives ästhetisches
Erleben könne die Kontrollfunktion der Großhirnrinde überwunden
werden. Evolutionär ältere Hirnregionen würden angesprochen, die
für instinktive Weltorientierung zuständig seien. Wir bekämen dann
den Eindruck, mit einem Schlag die ganze Welt neu, anders und bes-
ser als je zuvor zu verstehen.
Der bekannte Göttinger Hirnforscher Gerald Hüther erklärt, wie sich
durch Erlebnisse dieser Art Neuorientierungen imLeben Bahn brechen
können. Die Evolution habe den menschlichen Frontalhirnlappen mit
einer besonderen Aufmerksamkeit für das Unerwartete ausgestattet.
Wir verfügten über die Gabe, unsere bekannten Orientierungsschemata
neuen Eindrücken anzupassen. Das sei ein hochkreativer Prozess.
Chaos verwandle sich dabei in Harmonie. Der berühmte Flow-Effekt
stelle sich ein. Nervenzellen schütteten Hormone aus, die so glücks-
spendend wie Heroin wirkten. Kunst, die neue, auch irritierende
Aspekte enthalte, helfe uns dabei, diese besondere Fähigkeit am
Leben zu erhalten.
Wunderwelt
Alle drei dargestellten, biologisch unterfütterten Theoreme gehen von
der Innovationskraft der Kunst aus. Damit stehen sie imEinklang mit
Alexander Gottlieb Baumgarten, der im 18. Jahrhundert die moderne
Ästhetik begründete. »Novitas«, »curiositas« und »admiratio« – das
Überraschende, die Neugierde und das Staunen – das sind für ihn die
zentralen Begriffe der Kunst. Es liegt in der Tat auf der Hand, dass eine
Kunst, die alle Erwartungen erfüllt und keinenWiderspruch hervorruft,
uns auch keinen Mehrwert zu bieten hat. Sie bedient bekannte Mus-
ter, bestätigt eingefahrene Einstellungen und führt zu selbstgefälliger
Bewegungslosigkeit. Wenn Kunst gut sein will, muss sie neu sein. Sie
muss unsere Sinne herausfordern. Sie muss uns mitreißen, auch einmal
irritieren, verstören oder sogar abschrecken. Schaden macht klug. Das
gilt auch für die Zerstörungen, welche provokative Kunst hervorruft.
Sie reißt Wunden auf und heilt sie zugleich. Sie zerbricht alte Ordnun-
gen und bildet aus den Scherben neue Ordnungen.
Im Zuge dieser Überlegungen und im Dialog mit den Ideen des
Museumsgründers Lothar-Günther Buchheim habe ich für sein
Museum der Phantasie das Konzept einer »ästhetischenWunderwelt«
entwickelt. Buchheim wollte etwas »Einmaliges –
ein Museum mit Signalwirkung« auf die Beine
stellen. Er strebte »eine Art Wellenbecher gegen
die Woge der Gleichmacherei in den Museen« an.
Eine künstlerisch-ästhetische Präsentation sollte
den Ausbruch aus dem Gewohnten ermöglichen.
Die übliche »steißtrommlerische Systematik«
einer kunsthistorisch gegliederten Präsentation
sollte durchbrochen werden. Er gab uns den Auf-
trag mit auf den Weg, »die Leute dazu zu ermuti-
gen, ihren eigenen Augen und ihren eigenen Sin-
nen zu trauen und selber zu entscheiden, woran sie
sich delektieren wollen«. Buchheimwünschte sich
zwar eine klassische Darbietung seiner berühmten
Expressionistensammlung, doch schwebte ihm vor,
»quasi kontrapunktisch das Auge des Betrachters
mit unerwarteten und ungewohnten Eindrücken«
aufzufrischen. Diesen Perspektivwechsel können
wir mittlerweile im wahrsten Sinne des Wortes
im Buchheim Museum erfahren.
Landpartie mit Perspektivwechsel
Versetzen wir uns in die Lage eines Besuchers.
Sommer, Sonne, Sonnenschein. Fahrradfahren,
Schiffchenfahren, Picknick, Baden und dann noch
Kultur. Ein hübsches Museum direkt am Seeufer
wird besucht. Im großen Ausstellungssaal ist es
angenehm kühl. Bilder berühmter Expressionis-
ten hängen da: Heckel, Jawlensky, Kirchner, Nolde,
Mueller, Pechstein, Schmidt-Rottluff …Da setzt er
sich erst einmal auf eine der gepolsterten Bänke.
Er betrachtet ein monumentales Ölgemälde, ver-
sinkt in die gewaltige Schilderung des Hochgebir-
ges. Ihmwird etwas schwindelig. Er versteht nicht
ganz, was geschieht. Die Berglandschaft scheint in
Bewegung zu geraten. Nein halt! Die Wände be-
wegen sich mit ihr, das ganze Museum! Oder ist
er es, der sich bewegt? Ja richtig. Die Bank rollt
langsam über das Parkett. Er beginnt, die Fahrt zu
genießen. Die Ausstellung verschiebt sich vor sei-
nen Augen. Neben einer Frau in lilafarbenemKleid
vor abendlicher Alpenkulisse und einem Pfeife
rauchenden Bauern taucht ein Liebespaar auf, ihre
Gesichter wie aus Holz geschnitzt, seines grün
und orange, ihres rosa und gelb. »Warum kneift
sie ein Auge zu?«, denkt er sich noch, da tauchen
schon drei Frauen am Meer auf, eine Hafenaus-
fahrt vor bizarrer Wolkenkulisse und schließlich
eine kalkig weiße, kristalline Traumlandschaft
mit einer Badenden im Vordergrund. Die Bilder
treten in Beziehung zueinander. In seiner Vorstel-
lung verdichten sich die Personen und Gegenden
zu einer Geschichte.
links
WON ABCs Wandgemälde am Buchheim Museum.