Table of Contents Table of Contents
Previous Page  36 / 52 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 36 / 52 Next Page
Page Background

aviso 2 | 2018

KUNST = MEDIZIN

COLLOQUIUM

|36|

transzendenter Sinnfindung befriedige. Durch intensives ästhetisches

Erleben könne die Kontrollfunktion der Großhirnrinde überwunden

werden. Evolutionär ältere Hirnregionen würden angesprochen, die

für instinktive Weltorientierung zuständig seien. Wir bekämen dann

den Eindruck, mit einem Schlag die ganze Welt neu, anders und bes-

ser als je zuvor zu verstehen.

Der bekannte Göttinger Hirnforscher Gerald Hüther erklärt, wie sich

durch Erlebnisse dieser Art Neuorientierungen imLeben Bahn brechen

können. Die Evolution habe den menschlichen Frontalhirnlappen mit

einer besonderen Aufmerksamkeit für das Unerwartete ausgestattet.

Wir verfügten über die Gabe, unsere bekannten Orientierungsschemata

neuen Eindrücken anzupassen. Das sei ein hochkreativer Prozess.

Chaos verwandle sich dabei in Harmonie. Der berühmte Flow-Effekt

stelle sich ein. Nervenzellen schütteten Hormone aus, die so glücks-

spendend wie Heroin wirkten. Kunst, die neue, auch irritierende

Aspekte enthalte, helfe uns dabei, diese besondere Fähigkeit am

Leben zu erhalten.

Wunderwelt

Alle drei dargestellten, biologisch unterfütterten Theoreme gehen von

der Innovationskraft der Kunst aus. Damit stehen sie imEinklang mit

Alexander Gottlieb Baumgarten, der im 18. Jahrhundert die moderne

Ästhetik begründete. »Novitas«, »curiositas« und »admiratio« – das

Überraschende, die Neugierde und das Staunen – das sind für ihn die

zentralen Begriffe der Kunst. Es liegt in der Tat auf der Hand, dass eine

Kunst, die alle Erwartungen erfüllt und keinenWiderspruch hervorruft,

uns auch keinen Mehrwert zu bieten hat. Sie bedient bekannte Mus-

ter, bestätigt eingefahrene Einstellungen und führt zu selbstgefälliger

Bewegungslosigkeit. Wenn Kunst gut sein will, muss sie neu sein. Sie

muss unsere Sinne herausfordern. Sie muss uns mitreißen, auch einmal

irritieren, verstören oder sogar abschrecken. Schaden macht klug. Das

gilt auch für die Zerstörungen, welche provokative Kunst hervorruft.

Sie reißt Wunden auf und heilt sie zugleich. Sie zerbricht alte Ordnun-

gen und bildet aus den Scherben neue Ordnungen.

Im Zuge dieser Überlegungen und im Dialog mit den Ideen des

Museumsgründers Lothar-Günther Buchheim habe ich für sein

Museum der Phantasie das Konzept einer »ästhetischenWunderwelt«

entwickelt. Buchheim wollte etwas »Einmaliges –

ein Museum mit Signalwirkung« auf die Beine

stellen. Er strebte »eine Art Wellenbecher gegen

die Woge der Gleichmacherei in den Museen« an.

Eine künstlerisch-ästhetische Präsentation sollte

den Ausbruch aus dem Gewohnten ermöglichen.

Die übliche »steißtrommlerische Systematik«

einer kunsthistorisch gegliederten Präsentation

sollte durchbrochen werden. Er gab uns den Auf-

trag mit auf den Weg, »die Leute dazu zu ermuti-

gen, ihren eigenen Augen und ihren eigenen Sin-

nen zu trauen und selber zu entscheiden, woran sie

sich delektieren wollen«. Buchheimwünschte sich

zwar eine klassische Darbietung seiner berühmten

Expressionistensammlung, doch schwebte ihm vor,

»quasi kontrapunktisch das Auge des Betrachters

mit unerwarteten und ungewohnten Eindrücken«

aufzufrischen. Diesen Perspektivwechsel können

wir mittlerweile im wahrsten Sinne des Wortes

im Buchheim Museum erfahren.

Landpartie mit Perspektivwechsel

Versetzen wir uns in die Lage eines Besuchers.

Sommer, Sonne, Sonnenschein. Fahrradfahren,

Schiffchenfahren, Picknick, Baden und dann noch

Kultur. Ein hübsches Museum direkt am Seeufer

wird besucht. Im großen Ausstellungssaal ist es

angenehm kühl. Bilder berühmter Expressionis-

ten hängen da: Heckel, Jawlensky, Kirchner, Nolde,

Mueller, Pechstein, Schmidt-Rottluff …Da setzt er

sich erst einmal auf eine der gepolsterten Bänke.

Er betrachtet ein monumentales Ölgemälde, ver-

sinkt in die gewaltige Schilderung des Hochgebir-

ges. Ihmwird etwas schwindelig. Er versteht nicht

ganz, was geschieht. Die Berglandschaft scheint in

Bewegung zu geraten. Nein halt! Die Wände be-

wegen sich mit ihr, das ganze Museum! Oder ist

er es, der sich bewegt? Ja richtig. Die Bank rollt

langsam über das Parkett. Er beginnt, die Fahrt zu

genießen. Die Ausstellung verschiebt sich vor sei-

nen Augen. Neben einer Frau in lilafarbenemKleid

vor abendlicher Alpenkulisse und einem Pfeife

rauchenden Bauern taucht ein Liebespaar auf, ihre

Gesichter wie aus Holz geschnitzt, seines grün

und orange, ihres rosa und gelb. »Warum kneift

sie ein Auge zu?«, denkt er sich noch, da tauchen

schon drei Frauen am Meer auf, eine Hafenaus-

fahrt vor bizarrer Wolkenkulisse und schließlich

eine kalkig weiße, kristalline Traumlandschaft

mit einer Badenden im Vordergrund. Die Bilder

treten in Beziehung zueinander. In seiner Vorstel-

lung verdichten sich die Personen und Gegenden

zu einer Geschichte.

links

WON ABCs Wandgemälde am Buchheim Museum.