aviso - Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst in Bayern - page 45

aviso 3 | 2014
Bayern-Südtirol
Werkstatt
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Die zimbrische Sprache
Was ist denn der Reiz der wissenschaft-
lichen Beschäftigung mit diesen Sprach-
inseln? Dialektforscher begeistern sich –
wie schon Schmeller – für die Altertüm-
lichkeit des Zimbrischen. Es spielt als
»historische Quelle« in Eberhard Kranz-
mayers Konzept für das »Wörterbuch der
bairischen Mundarten in Österreich«
eine wichtige Rolle, denn: »Die meis-
ten Sprachinseln sind ... sofort nach der
Kolonisation auf sich selbst gestellt ge-
wesen und vom Binnenland her nicht
mehr beeinflußt worden«. So hat man sie
»lebende Sprachmuseen« genannt, die
noch heute Auskunft erteilten über den
Sprachstand der Besiedlungszeit. Man
beachte im Zimbrischen Paternoster die
unterschiedlichen Endsilbenvokale in
der dain naamo, in d’éerda
›auf Erden‹
und
d’ügnarn zünte
›unsere Schulden‹,
ähnlich wie im Althochdeutschen des
9. und 10. Jahrhunderts. Zu den zimb-
rischenWörtern, die es imBinnenraum
seit alt- oder mittelhochdeutscher Zeit
nicht mehr gibt, gehören:
enne
›Stirn‹
(ahd.
endi
),
köden
›sagen‹ (ahd.
quëdan
),
gedingo
›Hoffnung‹ (mhd.
gedinge
›Zuversicht‹).
Aber die Altertümlichkeit
ist
nur eine der prägenden Komponenten.
Ein anderer, in philologischem Natio-
naleifer zuweilen übersehener Aspekt
ist der Einfluss der Umgebungssprache.
Ohne Rückendeckung einer normier-
ten Standardsprache sind die Dialekte
dem Italienischen zum Teil recht weit
entgegengekommen. Im zimbrischen
Paternoster (oben) liest man etwa
der
dain naamo
›dein Name‹ mit voraus-
gehendem bestimmten Artikel, wie ita-
lienisch
il tuo nome
; das Wort
bràndare
für ›wir‹, sozusagen »wir andere«, ent-
spricht umgangssprachlichem italieni-
schen
noi altri
. Auch der Alltagsdiskurs
ist mit italienischen Floskeln gespickt
(
ecco, alora, ma!
). In Wortschatz ha-
ben die Zimbern gewaltige Anleihen
bei ihren Nachbarn gemacht. Im zim-
brischen Paternoster finden wir etwa
Regno, tentaziùum, offendart, liberar-
zich
. Der Einfluss ist so tiefgreifend, dass
die Lehnwörter Zeugnisse für die histori-
sche Dialektforschung des Italienischen
sind; auch die Entlehnungen bleiben auf
dem Sprachstand der Gebersprache zur
Entlehnungszeit, während um sie her-
um der Sprachwandel tobt.
Sprachinseln bieten also für Linguis-
ten eine Vielfalt von Forschungsthemen.
Weil sie Sprachminderheiten in anders-
sprachiger Umgebung bilden, stellen sich
neben grammatikalischen und lexikali-
schen Fragen auch solche der Sprachpo-
litik und des Sprachenrechts, der Eth-
nologie der Sprache und leider auch des
Sprachtodes.
In Italien hat
der Schutz von Sprach-
minderheiten Verfassungsrang. Um
gemeinsam stärker zu sein, haben die
deutschen Sprachinseln zudem in einem
»Einheitskomittee der kleinen deutschen
Sprachminderheiten in Italien« eine
eigene Interessenvertretung gegründet.
Auch in Bayern unterstützt ein »Baye­
risches Cimbernkuratorium e. V.« die
Sprachinseln. Die Situation ist in jeder
Sprachinsel anders, aber zumindest in
Lusern und im Fersental kann man hof-
fen, dass das Überleben der Sprachinsel­
idiome fürs erste gesichert ist. Heute
kann man die Sprachinseln alle bequem
mit demReisebus erreichen. Der Europa-
Wanderweg E 5 führt von den Alpen
zur Adria quer durch die Sprachinseln,
da kann der Wanderer nicht umhin, im
Fersental, in Lusern und in Giazza vor-
beizuschauen.
oben
Die Sprachinsel Lusern.
darüber
Zimbrische Warenankündigung in den
13 Gemeinden.
darüber
Ortsschild Palai im Fersental.
Professor Dr. Anthony Rowley
ist ein
britischer Sprachwissenschaftler, der
als Dialektologe und Lexikograf die bairi-
schen Dialekte erforscht.
Rowley ist seit 1988 Leiter der Redaktion
des auf zehn Bände veranschlagten
Bayerischen Wörterbuchs (BWB), das von
der Kommission für Mundartforschung
an der Bayerischen Akademie der Wissen-
schaften herausgegeben wird. Als
Dienststellenleiter der Kommission für
Mundartforschung ist er daneben
auch für das Ostfränkische Wörterbuch
zuständig. Seit 1989 lehrt Rowley
überdies als außerplanmäßiger Professor
Germanistik an der Ludwig-Maximilians-
Universität München. Wochentags ist
er in der vom Bayerischen Rundfunk pro-
duzierten Sendung »Wir in Bayern« zu
sehen, für die er die Bedeutung eines von
einem Zuschauer zum Rätsel gestellten
bayerischen Wortes erklärt.
Zum Weiterlesen
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