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aviso 2 | 2018
KUNST = MEDIZIN
COLLOQUIUM
Wirkfaktoren des bildnerisch-therapeutischen
Prozesses
Für die Gestaltenden scheint der künstlerisch-therapeutische
Prozess in erster Linie folgende Konsequenzen zu haben:
Sie werden autonomer und selbstbewusster und entwickeln
mehr Vertrauen in ihre Fähigkeit, Probleme zu bewältigen.
Sie beginnen, stärker nach Lösungen zu suchen und alte Ver-
haltensmuster aufzubrechen. Sie werden sozialer und auch
sprachlich gewandter. Sie können ihre Situation besser aus-
drücken und verstehen. Ansatzweise wurde beobachtet (siehe
oben), dass während der Projekte in psychiatrischen Einrich-
tungen psychotische Schübe nicht oder seltener ausbrachen.
Die Unterstützung der »gesunden Ichanteile« verlagert, wie
erwähnt, die Aufmerksamkeit von Leiden undMängeln weg,
hin zu Ausdruckswillen und Gestaltungsfähigkeit. Diese Ver-
lagerung geschieht nicht nur bei den Klienten und Patienten,
sondern häufig auch bei Klinikpersonal und Mitpatienten.
Sie sehen die Patientinnen in einem neuen, positiven Licht,
was wiederum den Gestaltenden neue Möglichkeiten des
Fühlens und Verhaltens eröffnet und sie in ihrer progressi-
ven Entwicklung fördert.
DAS BILDNERISCHE GESTALTEN
ist nicht nur eine Möglichkeit,
in vorsprachliche Bereiche zu gehen und dort unmittelbar
dynamische Prozesse zu bewirken, es fördert auch die aktiv-
progressiven Anteile des Gestalters. Dieser setzt aktiv innere
Bilder um, verändert sie, gestaltet sie, muss sich mit dem
oft widerspenstigenMaterial auseinandersetzen, muss viele
Entscheidungen fällen, muss ein anfänglich leeres Blatt oder
einen rohen Stein mit aller Ungewissheit, was daraus wird,
bearbeiten. Die begleitenden Kunsttherapeutinnen geben
zwar Hilfestellungen, nehmen damit aber Entscheidungen
nicht ab. Auch sie müssen ertragen, dass sie nicht wissen,
was im nächsten Augenblick geschieht und wie das fertige
Werkstück aussehen wird. Eine ihrer wichtigsten Aufgaben
ist es, Störungen und Konflikte im Klienten so mit diesem
zu bearbeiten, dass sich seine eigene Fähigkeit zur Entwick-
lung und Veränderung entfaltet. Durch ihre therapeutische
Schulung verhindern sie, dass der bildnerische Prozess in
Abwehr oder Agieren stagniert, und ermöglichen im Gegen-
teil seinen progressiven Verlauf.
Noch ist zu wenig systematisch erforscht, was im Einzelnen
die bildnerische Arbeit therapeutisch wirken lässt. Wir kön-
nen uns aber auf die Beobachtungen aus zahlreichen thera-
peutischen Ateliers und Projekten stützen. Sicher scheint zu
sein, dass ein wesentlicher Faktor die Kombination von auto-
nomer bildnerischer Arbeit seitens des Gestaltenden und die
wohlwollend begleitende, unterstützende Aufmerksamkeit
des Kunsttherapeuten ist. Dabei stellen die Kunsttherapeu-
tinnen ihr eigenes Unbewusstes atmosphärisch zur Verfü-
© Stefan Heide