

aviso 4 | 2017
GLAUBEN UND GLAUBEN LASSEN
COLLOQUIUM
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Erst im Gefolge der militärischen Zurückdrängung des Osmanischen
Reichs seit dem »Großen Türkenkrieg« (1683-1699) gelangten später
konvertierte oder zwangsgetaufte osmanisch-muslimische Kriegsge-
fangene in größerer Zahl als »Beutetürken« nach Deutschland, zuvor
schon vereinzelt als Sklaven. Der Historiker Hartmut Heller hat ihr
wechselvolles Schicksal erforscht: Ein fränkischer Adliger, der bei der
Seeschlacht von Lepanto 1571 und später am Landkrieg teilgenommen
hatte, brachte einen türkischen Gefangenen nach Nürnberg, der dort
im Jahre 1600 getauft wurde. Der bayerische Kurfürst Max Emanuel
brachte im Jahre 1686 345 solcher Sklaven nach München. Unter den
von Heller für Franken identifizierten 75 »Beutetürken« waren min-
destens die Hälfte Kinder unter 16 Jahren. Familiennamen wie Aly,
Morath, Oßmann oder Soldan sollen auf osmanische Ursprünge (Ali,
Murad, Osman, Sultan) zurückzuführen sein.
Faszination des »Orients«
Mit der zunehmenden politischen und militärischen Dominanz euro-
päischer Staaten begann man, sich für die orientalische Kultur zu inte-
ressieren und ließ sich von ihr auch faszinieren. Davon legen etwa die
unter König Ludwig II. geschaffenen maurischen Bauten im Park von
Schloss Linderhof und auf dem Schachen Zeugnis ab. Die Wertschät-
zung der kulturellen Leistungen der islamisch geprägtenWelt schlug sich
auch in der ersten großen Ausstellung islamischer Kunst in München
im Jahre 1910mit etwa 3600 Objekten nieder. Gut hundert Jahre nach
der ersten großen Ausstellung erschien ein Prachtband »München und
der Orient«. Das Museum Fünf Kontinente in München widmet sich
dem islamischen Kulturkreis mit einer Akzentsetzung auf islamisch-
religiöser Alltagskultur.
InMünchen und Berlin entstanden in den 20er-Jahren zudemGemein-
schaften, die sich der mystischen Richtung des Islam (Sufismus) verbun-
den fühlten, inspiriert durch Missionsreisen des Sufi-Lehrers, Sängers
und Musikers Hazrat Inayat Khan aus Baroda/Indien, der lange Jahre
in verschiedenen westlichen Ländern wirkte. Spätestens zu dieser Zeit
wurde der Islam auch zu einer deutschen und bayerischen Erscheinung –
freilich zu einer Randerscheinung, was die Zahlen seiner Anhänger be-
trifft. Dies änderte sich grundlegend mit der Zuwanderung auch von
muslimischen »Gastarbeitern« vom Balkan, aus der Türkei, Marokko
und Tunesien, später von Asylbewerbern aus vielen Teilen der islami-
schen Welt. 1987 zählte man z. B. 220000 Muslime in Bayern, heute
dürfte sich die Gesamtzahl der Muslime in der Größenordnung von
ca. 700000 bewegen, wobei mehr als grobe Annäherungswerte nicht
vorliegen. Räumliche Konzentrationen finden sich vor allem in Groß-
städten und industriell geprägten Regionen.
Vielfalt muslimischer Glaubenszugänge
Die sunnitische Glaubensrichtung ist zahlenmäßig am stärksten vertre-
ten, es finden sich aber auch in unterschiedlich großen Zahlen Aleviten,
Schiiten und Ahmadis. Es würde den Tatsachen nicht gerecht, sie als
einheitliche muslimische Bevölkerungsgruppe wahrzunehmen. Viel-
mehr zeigt sich unter ihnen die ganze Vielfalt muslimischer Glaubens-
zugänge. Häufig überschätzt wird die Bedeutung eines buchstabenge-
treuen Schriftislam. Bedeutsamer als die strikte Befolgung sichtbarer
religiöser Bekundungen sind für viele Muslime mystische Richtungen,
eine volksislamische Kultur und nicht zuletzt eine ethisch-moralische
Ausrichtung des Glaubenslebens. Es hat sich aber
auch zusehends eine religiöse Infrastruktur heraus-
gebildet: Moscheen, alevitische Cemhäuser, Läden
mit spezifischem Warenangebot und muslimisch-
religiöse Organisationen sind zum Bestandteil
des Freistaats geworden – ein völlig normaler und
von unserer Rechtsordnung geschützter Vorgang
im Hinblick auf eine zahlenmäßig bedeutsame
Bevölkerung, die großenteils dauerhaft im Land
lebt und verbleibt.
Migration und Integration
Die Migrationsgeschichte der meisten Muslime
schlägt sich in manchen Problemen nieder, die
typischerweise mit Migrationsvorgängen unab-
hängig von der Religion der Beteiligten verbun-
den sind. Das betrifft sowohl den Zugang zur Auf-
nahmegesellschaft als auch deren Reaktionen und
Wahrnehmungen. Wesentliche Hindernisse bei der
Integrationmancher sind z. B. Sprachdefizite, aber
auch diskriminierende Ablehnung oder kulturelle
Prägungen. Nicht zu vergessen ist beispielsweise
eine noch verbreitete ausgeprägt patriarchalische
Erziehung und Lebenshaltung. Sie wird gelegentlich
zudem religiös legitimiert und führt im Familien-