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aviso 4 | 2017
GLAUBEN UND GLAUBEN LASSEN
COLLOQUIUM
Text:
Ulrich Konrad
nschlichen
«
Wenn ein junger Mensch wie Martin Luther an der Wende vom 15. zum
16. Jahrhundert an einer Domschule unterrichtet wurde und anschlie-
ßend an einer Universität studierte, dann gehörte dazu eine intensive
Unterweisung in der ars musica, und das hieß im praktischen Musi-
zieren wie in Musik als einer Grundlagenwissenschaft. Seit je galt ein
Grundstudium der Musiktheorie als selbstverständlicher Teil univer-
sitärer Propädeutik. Die philosophische Theorie der Musik behauptete
den Anspruch, für die höhere Bildung des Menschen unentbehrlich zu
sein. Die wechselseitige Implikation von Kunst und Wissenschaft im
Falle der Musik lag bereits für antike Philosophen und Musiktheore-
tiker offen zu Tage. Poetisch-praktische Fertigkeit und Streben nach
theoretischer Erkenntnis kennzeichneten Elemente einer ganzheit-
lich verstandenenMenschenbildung und waren ausdrücklich nicht als
Alternative gedacht. Die Betonung einer allein auf die Praxis gerichte-
ten Musikübung sollte damit ebenso ausgeschlossen sein wie die einer
bloß spekulativen Theorie.
»…alles geordnet nach Maß, Zahl und Gewicht.«
Freilich sah das in der Realität sehr viel spannungsvoller aus. Vor allem
die für Luther maßgebliche christliche Musikanschauung betonte die
über die sinnliche Qualität des Klingenden hinausgehende metaphy-
sische Dimension der Musik, ja, allein diese bestimme ihre Dignität
in der Schöpfungsordnung. Dabei erlangte die bereits von Pythagoras
gemachte Entdeckung eine besondere Bedeutung, dass bei der Teilung
einer gespannten Saite wohlklingende musikalische Intervalle erzeugt
werden, wenn die Längen der beiden Teile ganzzahlige Verhältnisse wie
1:2 (Oktave), 2:3 (Quinte) oder 3:4 (Quarte) bilden. Die Erfahrung, dass
ein Zahlenverhältnis der musikalischenWirkung zugrunde liegt, wird
zu der Ansicht verallgemeinert, dass alle Erscheinungen in der Natur
auf Zahlen und Zahlenverhältnissen gründen. Die christliche Adaption
dieses Gedankens erfolgt über die Exegese von Vers 21 des 11. Kapitels
im apokryphen alttestamentlichen Buch der Weisheit, wo es von Gott
heißt: »Du hast alles geordnet nachMaß, Zahl und Gewicht.« Gott hat
demnach, so die Überzeugung, das Wesen der Musik als Zahlhaftes
bestimmt. Indem der Mensch die zahlhafte Ordnung imMikrokosmos
der Musik erkennt, begreift er ein Ordnungsprinzip schlechthin des
Makrokosmos, der göttlichen Schöpfung. Dabei ist der sinnlich wahr-
nehmbare Klang des Tons, in dem die zahlhafte Ordnung mitschwingt,
eine von Gott dem Menschen geschenkte Möglichkeit, wenigstens
ahnungsweise die musica mundana, die Harmonie der perfekten Got-
tesschöpfung zu erfahren. Für Luther bedeutete diese Anschauung nicht
bloß einen überkommenen Lehrstoff und spekulatives Gedankengut,
sie stellte vielmehr die für ihn lebenslang unangefochtene Basis seines
Musikverständnisses dar.
»…mit jm reden durch Gebet und Lobgesang«
Mit diesem Verständnis reihte sich Luther bruchlos in das seiner Zeit-
genossen ein. Im Zuge der reformatorischen Wende gewann es jedoch
eine neue Qualität, weil Luther die Möglichkeiten erkannte, die in der
Musik für die Verbreitung der neuen Lehre lagen. Die Einsichten, die
links
Gustav Adolph Spangenberg (1828-1891), Luther im Kreise seiner Familie,
1866. – Eine Inszenierung aus nationalromantisch-historisierendem Geist.