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aviso 4 | 2017

GLAUBEN UND GLAUBEN LASSEN

COLLOQUIUM

Ganz generell bringt das Identifikationsverbot über die ge-

nannten Teilgehalte hinweg zum Ausdruck, dass der Staat

auf religiöse Legitimation verzichtet. So wenig es eine Staats­

religion gibt, so wenig gibt es eine Staatsweltanschauung. Der

liberale Staat erhebt keine Wahrheits-, sondern Geltungsan-

sprüche, die keiner über- oder außerweltlichen Beglaubigung

bedürfen, sondern sich auf die immanente Legitimität der

demokratischen Verfassung gründen.

II.

Historisch markiert das Neutralitätsgebot den Endpunkt ei-

ner Entwicklung, die man mit den konfessionellen Bürger-

kriegen und den aus ihnen erwachsenen religionsrechtlichen

Regeln beginnen und mit den umfassenden Garantien von

Glaubens-, Gewissens- und Kultusfreiheit in der Weima-

rer Reichsverfassung enden lassen kann. Diese Arbeit der

Jahrhunderte, als Lerngeschichte betrachtet, führt zur er-

fahrungsgesättigten Einsicht, dass dem Staat in Bezug auf

glaubensbezogene Wahrheitsfragen schlicht die Kompetenz

fehlt.

Die Anfänge imAugsburger Religionsfrieden von 1555 (cuius

regio, eius religio) waren allerdings durchaus bescheiden.

Religionsfreiheit bestand in der Religionshoheit und war ein

Herrschaftstitel: es gab Glaubensfreiheit nicht gegen die Ob-

rigkeit, sondern der Obrigkeit. Erst nach und nach wurden

Glaube und Konfession vom Staatsattribut zumGrundrecht

der Bürger. Zu wichtigen Etappen auf diesemWeg zählen das

Allgemeine Preußische Landrecht von 1794 sowie die Pauls-

kirchenverfassung von 1848/49, auch wenn sie bekanntlich

niemals in Kraft trat. Die Weimarer Reichsverfassung von

1919 schließlich etablierte ein umfassendes Schutzniveau,

auf dem unser heutiges Religionsverfassungsrecht aufbaut.

Der moderne freiheitliche Staat überwindet die kollidieren-

denWahrheitsansprüche der religiösen Gruppen nicht durch

konfessionelle Homogenität, sondern durch Zulassung von

Glaubensvielfalt bei gleichzeitiger Distanzierung von den

unterschiedlichen Antworten auf die Wahrheitsfrage. Da-

bei spricht er der Religion nicht das Wahrheitspotential ab –

er spricht es nur keiner bestimmten Religion zu. Der Clou

der Entwicklung liegt darin, dass die Ausdifferenzierung der

Sphären die Religion nicht etwa schwächt, sondern zu ihrer

Stärkung als Glaubensmacht führen kann. Mit dem säku-

laren Staat ist daher keineswegs ein erster Schritt in Rich-

tung Religionslosigkeit getan. Denn gerade weil umfassende

Religionsfreiheit gewährt wird, besitzen die Glaubensgemein-

schaften breiten Raum zur Entfaltung und auch zur Einmi-

schung in öffentliche Angelegenheiten. Der Staat ordnet sie

aber der Sphäre der Gesellschaft zu. Religion ist nicht län-

ger Fixpunkt und Legitimationsanker politischer Herrschaft,

sondern Gegenstand privaten Glaubens und Handelns. Und

je stärker sich dieses religiöse Feld nun pluralisiert, je hete-

rogener und vielfältiger die Gemeinschaften werden und je

unterschiedlicher sie sich gebärden, desto wichtiger wird der

Neutralitätsgrundsatz.

III.

Doch was bedeutet das konkret für den Gesetzgeber? Was

heißt es genau, dass das Recht aus Neutralitätsgründen keinen

religiösen oder weltanschaulichen Vorstellungen verpflichtet

sein und keine solchen Gehalte umfassen dürfe?

Solche Fragen drängen sich auf, weil Gesetze auf die Lebens-

formen und Praktiken unterschiedlicher Religions- undWelt-

anschauungsgemeinschaften niemals die gleichen Auswir-

kungen haben. Sie können und werden ungleiche Wirkungen

zeitigen, weil sie mit der einen Religion kompatibler sind als

mit der anderen. Eine Wirkungs- oder Ergebnisneutralität

wäre daher gar nicht möglich. Hierin liegt kein Manko, son-

dern eine für das Recht generell typische, ja geradezu natürli-

che Erscheinung: Jede Rechtsordnung, auch und gerade eine

demokratische, beruht auf bestimmten sozialen, kulturellen

und ideellen Grundlagen. Die vielfältige Prägung unseres

Rechts durch das Christentum ist das beste Beispiel dafür.

Neutralität meint nicht Wertungsaskese oder Inhaltsleere.

Der säkulare Verfassungsstaat ist »weltanschaulich neutral,

nicht wertneutral« (Konrad Hesse).

Vor diesem Hintergrund kommen politische Philosophie

(Rawls, Habermas) und beträchtliche Teile der Staats-

rechtslehre darin überein, dass nicht Ergebnis-, sondern nur

Begründungsneutralität verlangt werden kann. Nur was ist

darunter zu verstehen?

Gängiger Rede zufolge soll sie beinhalten, dass die Rechtfer-

tigung von Gesetzen an allgemein akzeptierbare, glaubens­

unabhängige Geltungsansprüche gebunden ist. Der welt-

anschaulich neutrale Staat müsse sich auf solche Normen

beschränken, die jedem Bürger ohne Rekurs auf religiöse

Erfahrungen oder Glaubensüberzeugungen einsichtig zu

machen sind. Wir schuldeten uns wechselseitig gute Gründe,

die in einer säkularen Sprache zumAusdruck gebracht werden

müssten. Dieser Anspruch beißt sich nun aber mit den Funk-

tionsimperativen einer realen Demokratie. In dieser schul-

den politisch aktive Bürger einander im Grunde gar nichts.

Es ist ihr gutes Recht, ihre (womöglich noch so bornierten)

Interessen völlig diskursfrei zu verfechten und zu verfolgen.