

Doch bedeutet Definition nicht sogleich Intervention und
Distanzverlust. Wenn bereits jede Definition von Religion
eine Verletzung säkularer Neutralität darstellen würde, dann
müsste jede Definition von Presse die Pressefreiheit und
jede Definition von Wissenschaft die Wissenschaftsfreiheit
verletzen. Davon kann aber nicht ernsthaft die Rede sein.
Auch ist mit der Einstufung bestimmter Werke als Kunst
und ihrer Abgrenzung von anderen Produkten noch lange
kein staatliches Kunstrichtertum etabliert. Gleiches gilt für
die Bestimmung dessen, was als Religion und was vielleicht
eher als eine Körperkultur oder Meditationstechnik einzu-
stufen ist. Auch das hat kein staatliches Glaubensrichtertum
zur Folge. Vielmehr gilt: Nur was sich definieren lässt, lässt
sich auch schützen.
V.
Das Neutralitätsgebot sieht sich vielen Bewährungsproben
ausgesetzt. Eine konfliktträchtige Frage, die in jüngerer Zeit
gewisse Aufmerksamkeit erhielt, lautet: Sollte es für das
Verhältnis des Staates zu den Religionsgemeinschaften eine
Rolle spielen, inwieweit diese dem Bestand und der Ent-
wicklung des freiheitlichen Gemeinwesens zuträglich sind –
oder ob sie ihm fremd, ja womöglich ablehnend gegenüber-
stehen? Paul Kirchhof hat diese Frage offensiv bejaht. Der
Staat dürfe »unterscheiden, welche kirchlichen Lehren und
Lebensformen seine Kultur historisch entfaltet haben und
gegenwärtig stützen, welche Religionen ihn anregen und
bereichern, aber auch welche Lehren ihn in seiner Verfaßt-
heit verändern wollen.« Der Sache nach wird hier mit deut-
lichem Blick auf den Islam einer rechtlich folgenreichen Dif-
ferenzierung zwischen kulturadäquaten und kulturfremden
Religionen das Wort geredet.
Mit der Realisierung derartiger Thesen würde freilich
die Axt an das Neutralitätsgebot gelegt. Man unterwürfe
Religionen einer Ungleichbehandlung je nachdem, ob
man sie als gemeinschaftszuträglich oder -abträglich
einstuft. Es geschähe genau das, wovor das Identifika-
tionsverbot schützen soll: Religionen sähen sich einer
Bewertung durch den Staat ausgesetzt. Vor einer solchen Re-
volution unseres Religionsverfassungsrechts sollten wir uns
hüten.
Schon dieses eine Beispiel, dem sich viele weitere hinzufügen
ließen, demonstriert, dass das Gebot religiös-weltanschauli-
cher Neutralität gerade wegen steigender Pluralisierung der
Gesellschaft und an Heftigkeit zunehmender Konflikte in
Zukunft auf eine harte Probe gestellt werden wird. Es wäre
zu wünschen, dass es diese Probe besteht.
Professor Dr. Horst Dreier
ist Ordinarius für Rechts-
philosophie, Staats- und Verwaltungsrecht an der
Juristischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität
Würzburg.
Zum Weiterlesen
Im Frühjahr 2018 erscheint bei C.H. Beck Horst Dreiers Buch
»Staat ohne Gott. Die Religion in der säkularen Moderne«.
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aviso 4 | 2017
GLAUBEN UND GLAUBEN LASSEN
COLLOQUIUM
»Gerade weil umfassende
Religionsfreiheit gewährt wird,
besitzen die Glaubens-
gemeinschaften breiten Raum
zur Entfaltung und
auch zur Einmischung in öffent-
liche Angelegenheiten.«