Table of Contents Table of Contents
Previous Page  19 / 52 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 19 / 52 Next Page
Page Background

Doch bedeutet Definition nicht sogleich Intervention und

Distanzverlust. Wenn bereits jede Definition von Religion

eine Verletzung säkularer Neutralität darstellen würde, dann

müsste jede Definition von Presse die Pressefreiheit und

jede Definition von Wissenschaft die Wissenschaftsfreiheit

verletzen. Davon kann aber nicht ernsthaft die Rede sein.

Auch ist mit der Einstufung bestimmter Werke als Kunst

und ihrer Abgrenzung von anderen Produkten noch lange

kein staatliches Kunstrichtertum etabliert. Gleiches gilt für

die Bestimmung dessen, was als Religion und was vielleicht

eher als eine Körperkultur oder Meditationstechnik einzu-

stufen ist. Auch das hat kein staatliches Glaubensrichtertum

zur Folge. Vielmehr gilt: Nur was sich definieren lässt, lässt

sich auch schützen.

V.

Das Neutralitätsgebot sieht sich vielen Bewährungsproben

ausgesetzt. Eine konfliktträchtige Frage, die in jüngerer Zeit

gewisse Aufmerksamkeit erhielt, lautet: Sollte es für das

Verhältnis des Staates zu den Religionsgemeinschaften eine

Rolle spielen, inwieweit diese dem Bestand und der Ent-

wicklung des freiheitlichen Gemeinwesens zuträglich sind –

oder ob sie ihm fremd, ja womöglich ablehnend gegenüber-

stehen? Paul Kirchhof hat diese Frage offensiv bejaht. Der

Staat dürfe »unterscheiden, welche kirchlichen Lehren und

Lebensformen seine Kultur historisch entfaltet haben und

gegenwärtig stützen, welche Religionen ihn anregen und

bereichern, aber auch welche Lehren ihn in seiner Verfaßt-

heit verändern wollen.« Der Sache nach wird hier mit deut-

lichem Blick auf den Islam einer rechtlich folgenreichen Dif-

ferenzierung zwischen kulturadäquaten und kulturfremden

Religionen das Wort geredet.

Mit der Realisierung derartiger Thesen würde freilich

die Axt an das Neutralitätsgebot gelegt. Man unterwürfe

Religionen einer Ungleichbehandlung je nachdem, ob

man sie als gemeinschaftszuträglich oder -abträglich

einstuft. Es geschähe genau das, wovor das Identifika-

tionsverbot schützen soll: Religionen sähen sich einer

Bewertung durch den Staat ausgesetzt. Vor einer solchen Re-

volution unseres Religionsverfassungsrechts sollten wir uns

hüten.

Schon dieses eine Beispiel, dem sich viele weitere hinzufügen

ließen, demonstriert, dass das Gebot religiös-weltanschauli-

cher Neutralität gerade wegen steigender Pluralisierung der

Gesellschaft und an Heftigkeit zunehmender Konflikte in

Zukunft auf eine harte Probe gestellt werden wird. Es wäre

zu wünschen, dass es diese Probe besteht.

Professor Dr. Horst Dreier

ist Ordinarius für Rechts-

philosophie, Staats- und Verwaltungsrecht an der

Juristischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität

Würzburg.

Zum Weiterlesen

Im Frühjahr 2018 erscheint bei C.H. Beck Horst Dreiers Buch

»Staat ohne Gott. Die Religion in der säkularen Moderne«.

|19 |

aviso 4 | 2017

GLAUBEN UND GLAUBEN LASSEN

COLLOQUIUM

»Gerade weil umfassende

Religionsfreiheit gewährt wird,

besitzen die Glaubens-

gemeinschaften breiten Raum

zur Entfaltung und

auch zur Einmischung in öffent-

liche Angelegenheiten.«