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aviso 2 | 2018
KUNST = MEDIZIN
COLLOQUIUM
che einschließt. Ideen, die engen Grenzen der Kunst zu erweitern und die Künste für das
gesamte Leben fruchtbar zumachen, finden sich auch in den großen Utopien der Avantgarden
und in den ästhetischen Theorien der deutschen Romantik.
Die
Heilkräfte der Kunst
bilden eine gedankliche Basis, einen Ausgangspunkt des Festivals.
Unter diesem Titel wurde die künstlerische Position von Joseph Beuys vom Museum DAS
MAXIMUM KunstGegenwart in Traunreut mit einer Ausstellung und einem Vortrag vor-
gestellt. Beuys hat sich in seinem Werk ganz intensiv mit Krankheit und Heilung befasst.
Daran lassen sich die Impulse sehr gut nachvollziehen, die von der Kunst aus in die Medizin
und die Gesellschaft als Ganzes hineinwirken können.
EIN WEITERER ANSATZ
findet sich in den aktuellen ästhetischen Theorien, die die Relevanz
künstlerischer Arbeit für Entwicklungs- und Veränderungsprozesse betonen und diese phä-
nomenologisch begründen. Grundlage ist eine sinnlich-ästhetischeWahrnehmung, die nicht
das »Was«, sondern das »Wie«, nicht die Funktion, sondern die Qualitäten wahrgenomme-
ner Sinneseindrücke in den Mittelpunkt rückt. Hier gibt es eine Parallele zur Soziologie der
Resonanz, wonach die Qualität der Weltbeziehung für ein gelingendes Leben entscheidend ist.
In ihremweitesten Sinn ist Kultur Ausdruck des menschlichen Zusammenlebens und bildet –
so der britische Kulturtheoretiker Terry Eagleton – das soziale Unbewusste unserer Gesell-
schaft. Die Künste wirken in das soziale Unbewusste hinein und reflektieren es.
Gibt es eine gesunde Kunst?
Der Titel kunst&gesund provoziert diese Frage und legt damit den Finger auf eine der großen
Wunden deutscher Geschichte: auf die Politik des Nationalsozialismus die meinte, »gesunde«
und »kranke« Kunst diagnostizieren zu dürfen, die mit Veröffentlichungsverboten und
Bücherverbrennungen operierte und u. a. mit der Propagandaausstellung
Entartete Kunst
Künstlerinnen und Künstler diffamierte und verfolgte.
DIE LEIDVOLLEN KAPITEL
der deutschen Geschichte waren Gegenstand der
Kunstsprechstunde
in Traunstein. Unter dem Titel
Wundheilung
stellte der Münchner Künstler Wolfram Kast-
ner seine Aktionen vor, die u. a. die Bücherverbrennungen der Nazis thematisieren.
Die historische Erfahrung aus demKunstdiktat des Dritten Reiches – das dieWerke vonWil-
helm Lehmbruck, Emil Nolde und Pablo Picasso als geisteskrank und entartet diffamierte –
zeigt, wie sehr die Kunst und der öffentliche Umgang mit ihr Indikator für das Freiheits-
niveau, die innere Verfasstheit und das Menschenbild einer Gesellschaft sind. An den Pro-
pagandaausstellungen der Nationalsozialisten in München lassen sich auch die damaligen
Bewertungen von Gesundheit und Krankheit ablesen.
SELBST HEUTE NOCH
firmiert die Kunst von psychisch Kranken unter dem Begriff »Außen-
seiterkunst«, worauf der
euward
– der Europäische Kunstpreis für Malerei und Grafik im
Kontext von geistiger Behinderung – aufmerksammacht. Die Preisträger*innen werden von
der Augustinum Stiftung im BuchheimMuseum in Bernried vorgestellt.
Autonomie der Kunst
Ein Festival mit dem Fokus auf Kunst und Gesundheit hat einige Hürden zu nehmen und
Falltüren zu umgehen. Die größten Bauchschmerzen bereitet die Sorge vor einer Instrumen-
talisierung der Kunst, weil diese zu inhaltlichen Verkürzungen, zu ungewollten Bewertun-
gen oder zum Verlust an künstlerischem Niveau führen könnte. Vorbehalte gegenüber dem
Thema kunst&gesund haben auch mit der Eigentümlichkeit der Kunst zu tun, die eher das
Brüchige betont und – so formuliert es der Philosoph Byung-Chul Han – die Wunde als ihr
Wesentliches ansieht, nicht das Glatte. Von der Kunst geht ein Stoß aus, ein Umgestoßen-
Werden (Gadamer), den Rilke in seinem berühmten Satz zum Archaischen Torso Apollos
zumAusdruck bringt: »Da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Dumußt dein Leben ändern.«