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aviso 4 | 2017
GLAUBEN UND GLAUBEN LASSEN
RESULTATE
»AM HISTORISCHEN KOLLEG HERRSCHT
EIN GANZ ANDERER RHYTHMUS«
STIPENDIATIN KORINNA SCHÖNHÄRL IM GESPRÄCH
Dr. Korinna Schönhärl ist wissenschaftliche Mitarbeiterin
am Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der
Universität Duisburg-Essen. ImKollegjahr 2016/2017 hat sie
das Förderstipendium der LMU und des Freundeskreises des
Historischen Kollegs inne. Im Interview berichtet sie über
ihre Erfahrungen am Historischen Kolleg in München und
über die Schwierigkeiten junger Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler, Beruf und Familie miteinander zu vereinba-
ren. Zudem gewährt sie Einblicke in ihr Habilitationsprojekt
über die Griechenland-Investitionen europäischer Banken im
19. Jahrhundert.
JÖRN RETTERATH
Frau Schönhärl, warum haben Sie
sich mit dem Projekt »Finanziers in Sehnsuchtsräumen.
Europäische Banken und Griechenland im 19. Jahrhundert«
am Historischen Kolleg beworben?
KORINNA SCHÖNHÄRL
ImUnialltag ist es sehr schwer, Zeit
zum Schreiben zu finden. Ich habe mich am Historischen
Kolleg beworben, da man hier die Möglichkeit hat, sich ein
Jahr lang ganz auf die Forschung zu konzentrieren. Man kann
an einem Stück wissenschaftlich arbeiten, ohne durch Lehre,
universitäre Selbstverwaltung oder Organisationsaufgaben
aus dem Forschen herausgerissen zu werden. Das Kolleg ist
ein Ort, an dem man sich ganz versenken und ungestört
in den Schreibprozess eintauchen kann. Diese Möglichkeit
wollte ich mir nicht entgehen lassen.
RETTERATH
Was waren Ihre ersten Eindrücke, als Sie im
Oktober in die Kaulbach-Villa gekommen sind?
SCHÖNHÄRL
In den ersten paar Wochen war es für mich
ein ganz ungewohntes Gefühl, dass man hier völlig ungestört
im Büro sitzen kann. Niemand will irgendetwas von einem.
Und anfangs habe ich tatsächlich zweimal Verabredungen
mit Kollegen vergessen, so weit rückte die Uhr plötzlich in
den Hintergrund. AmHistorischen Kolleg herrscht ein ganz
anderer Rhythmus, in den man erst einmal hineinfinden
muss. Es gibt keine Termine, keine von außen an einen
herangetragenen Verpflichtungen. Man kann sich voll auf
das konzentrieren, was einem gerade wichtig ist.
RETTERATH
Wie würden Sie die Atmosphäre amHistorischen
Kolleg beschreiben?
SCHÖNHÄRL
Die Atmosphäre hier ist sehr ruhig und
entspannt. Besonders gefällt mir die hohe Wertschätzung,
die einem entgegengebracht wird. Man wird mit der Arbeit
sehr ernst genommen und es wird alles getan, um einen dabei
zu unterstützen. Es sind wirklich ideale Rahmenbedingungen
hier – angefangen von der Fernhaltung jeglicher Störungen
über die Lage nahe der Staatsbibliothek und die Bereitstellung
einer Hilfskraft bis hin zur Versorgung mit Getränken.
Sehr schön ist es auch, sich mit den anderen Fellows,
mit Historikerinnen und Historikern aus teilweise ganz
anderen Richtungen, die mitten in der Forschung stehen,
austauschen zu können. Dieser Kontakt ermöglicht es, neue
und ungewohnte Anregungen zu bekommen.
RETTERATH
Worum geht es in Ihrem Forschungsvorhaben?
SCHÖNHÄRL
Ausgangspunkt meines Projekts war die
Frage: Wie treffen Bankiers ihre Entscheidungen? Bei
der Beschäftigung mit dem Thema bin ich schnell zu der
Hypothese gelangt, dass dabei neben Gewinninteressen –
wie sie von der traditionellen Bankengeschichtsschreibung
stark gemacht werden – auch andere, »weiche« Faktoren
von großer Bedeutung sind. Anhand des Fallbeispiels
»Griechenland im 19. Jahrhundert« wollte ich untersuchen,
ob meine Vermutung stimmt. Griechenland bietet sich
wegen des emotional stark aufgeladenen Philhellenismus im
19. Jahrhundert als Untersuchungsgegenstand an. In meinem
Projekt habe ich mir verschiedene große Investitionsprojekte
dieser Epoche angeschaut und gehofft, Fälle zu finden, an
denen man nachzeichnen kann, wie politische Geschichte,
Ideengeschichte und wirtschaftliche Erwägungen inein
andergreifen – sprich: wie kulturelle Einflüsse auf das
Investitionsverhalten von Bankiers einwirken.
RETTERATH
Was haben Sie herausgefunden?
SCHÖNHÄRL
Insgesamt scheint sich meine Hypothese zu
bestätigen: Bankiers treffen –wie alle anderenMenschen auch –
wichtige Entscheidungen nicht rein rational. Natürlich ist bei
jeder Investition die Absicht vorhanden, Gewinn zu erzielen.
Ohne Gewinn kann kein Bankhaus überleben. Aber daneben
werden Bankiers durch verschiedenste Faktoren beeinflusst.
Das können der Philhellenismus, aber auch politische
Netzwerke, persönliche Freundschaften, Pfadabhängigkeiten
oder bestimmte Ideologien sein. Auf einen Bankier, der als
begeisterter Philhellene Investitionen getätigt hat, ohne dabei
mit Gewinnen zu kalkulieren, bin ich nur ein einziges Mal
gestoßen. Bei den anderen ließ sich immer eine Kombination
verschiedener Motive feststellen.
RETTERATH
Griechenland, Europa, Banken, Investitionen –
die Schlagwörter klingen seltsam bekannt. Welche Parallelen
gibt es zwischen dem 19. Jahrhundert und der aktuellen
Situation?
SCHÖNHÄRL
Das ist eine Frage, die mir immer wieder be-
gegnet – obwohl ich mein Projekt vor der griechischen Fi-
nanzkrise begonnen habe. Auf bestimmten Themenfeldern
drängt sich ein Vergleich geradezu auf: So gab es zumBeispiel
Ende des 19. Jahrhunderts schon einmal eine Internationale
Finanzkommission, die die griechischen Finanzen überprüft
und kontrolliert hat. Da liegt es natürlich nahe, die dama-
aviso Gespräch