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Professor Dr. Julian Nida-Rümelin lehrt Philoso-
phie und politische Theorie an der Ludwig-
Maximilians-Universität München. Er war Kultur-
staatsminister im ersten Kabinett Schröder,
Kulturreferent der LHS München und Präsident
der Gesellschaft für analytische Philosophie
sowie der Deutschen Gesellschaft für Philosophie.
Nida-Rümelin wurde vielfach geehrt, zuletzt
durch den Bayerischen Verdienstorden (2019).
Seit 2017 leitet er den Bereich Kultur im Zentrum
Digitalisierung.Bayern (ZD.B), seit 2018 ist er
Direktoriumsmitglied des neu gegründeten Bayer-
ischen Forschungszentrums für digitale Trans-
formation (bidt). 2018 erschien
Digitaler Huma-
nismus
(zus. m. Nathalie Weidenfeld) – es wurde
mit dem Bruno Kreisky Hauptpreis als politisches
Buch des Jahres 2018 ausgezeichnet.
Niina Zuber, M.A. ist wissenschaftliche
Mitarbeiterin und Referentin des Sprechers
Kultur des ZD.B.
Timo Greger, Dipl. sc. pol. Univ. ist wissenschaft-
licher Mitarbeiter an der Fakultät für Philosophie,
Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft.
den traditionellen Medien durch ein hohes Maß an Parzel-
lierung aus, d. h. die algorithmen-gesteuerten Daten- und
Informationsströme richten sich nach den jeweils manifest
gewordenen Präferenzen der Nutzer, was im Extremfall von
entgegenstehenden Informationen und Meinungen verläss-
lich abschirmt und zu dem Phänomen führt, das unterdessen
als Filterblase
(echo chambers/collective bias)
bezeichnet wird.
Durch diese technischen Innovationen wird insbesondere die
politische Öffentlichkeit herausgefordert: Im Zuge der Frag-
mentierung der einzelnen Diskursräume entstehen autonome
Teilöffentlichkeiten, welche zwar immer noch den Charakter
eines öffentlichen Diskurses haben, aber zunehmend in auto-
nomen und voneinander unabhängigen Räumen stattfinden.
Die Folgen aus dieser digital verstärkten Parzellierung der
Diskurse und dadurch letztlich die zunehmend verstärkte
Fragmentierung der Gesellschaft sind augenscheinlich: Der
gemeinsame Horizont der Beurteilung politischer Vorhaben
dünnt aus, und die Meinungsbildung selbst radikalisiert sich
durch Verstärkereffekte.
Demgegenüber war es noch nie so leicht, sich Informationen
zubesorgenund sich anpolitischenDebatten in einemgrößeren
Rahmen zu beteiligen. Die traditionellen Gatekeeper werden
durch Suchmaschinen umgangen und der Aufwand für Infor-
mationsbeschaffung ist sowohl in zeitlicher wie in finanzieller
Hinsicht auf einenwinzigen Teil gesunken.Wer will, kann sich
in kurzer Frist über komplexe Themengebiete umfangreiches
Informationsmaterial verschaffen und ein breites Spektrum
von Bewertungen und Kommentaren einholen. Zugleich ist
die Sachkompetenz außerhalb traditioneller Spezialisierungen
deutlich angewachsen. Interessierte schließen sich in eigenen
Internet-Gruppen zusammen, tauschen Informationen und
Meinungen aus. Das geschieht in vielen Fällen auf der Basis
eines geteilten Ethos. Für diese Entwicklung ist Wikipedia
das auffälligste Beispiel. Auch wenn nicht alle Informationen,
die Wikipedia bietet, verlässlich sind, so baut sich hier doch
jenseits traditioneller Informationssteuerungsmechanismen
der Nukleus eines Welt-Wissens auf, das auf der nicht-kom-
merziellenBereitschaft vieler Beteiligter beruht und von einem
rigorosen Ethos epistemischer Rationalität geprägt ist.
Die digitalen Technologien bieten vielfältige Möglichkei-
ten, den politischenMeinungsbildungsprozess durch sachliche
Informationen und das angebotene Spektrum unterschied-
licher Bewertungen zu bereichern sowie die institutionelle
Entscheidungsfindung stärker an die Partizipation der inter-
essierten Bürgerschaft anzubinden. Denn bei aller durchaus
berechtigten Kritik an den politischen Diskursräumen in den
sozialenNetzwerken gilt es dennoch festzuhalten: Die digitalen
Kommunikationstechnologien eröffnen auchMöglichkeiten zu
mehr Beteiligung, zur direkten und umfassendenDeliberation
undMobilisierung, die diejenigen der etablierten organischen
Strukturen übersteigen können. Entscheidend ist also nicht,
ob, sondern wie diese Technologien mit dem demokratischen
Diskurs, den politischen Institutionen und der Zivilgesellschaft
verknüpft werden.
Die politische Meinungsbildung unter Nutzung der Mög-
lichkeiten der Internet-Technologien muss als Stärkung der
parlamentarischen, rechtsstaatlich verfasstenDemokratie ver-
standen und eingesetzt werden. DieDigitalisierung ermöglicht
neue Formen der Kommunikation und der Interaktion, die im
politischen Feld bislang nur ganz unzureichend genutzt sind.
Dennoch ergeben sich hierbei auchGrenzen: Die Idee einer
liquid democracy,
einer softwaregestützten, digitalen direkten
demokratischen Partizipation bzw. politischenMeinungs- und
Entscheidungsfindung, im Sinne einer Ablösung der institu-
tionell und rechtsstaatlich verfassten repräsentativen Demo-
kratie, ist kritisch zu betrachten. Trotzdem können digitale
Technologien für eine Revitalisierung demokratischer Mei-
nungsbildung undEntscheidungsfindung aktiviert werden, zu-
mal die digitalen Diskursräume bereits jetzt in einem hohen
Maße zur öffentlichen Meinungsbildung beitragen. Die bis-
herigen zaghaftenVersuche, diese institutionell zu integrieren,
scheiterten zumeinen an dermangelndenBeteiligung und zum
anderen an der Ignoranz gegenüber den logisch-mathemati-
schen Restriktionen, denen direkte Demokratie unterworfen
ist, wie sie in der Collective Choice-Theorie analysiert worden
sind. Die Vorstellung, es ließe sich, egal ob mit digitalen oder
analogen Methoden, aus der Vielzahl politischer Präferenzen
ein allgemeiner kollektiver »Volkswille« aggregieren, wurde
als logisch undenkbar ausgewiesen.
Eine technologisch sicherzustellende offene Partizipati-
on und Deliberation ist entscheidend, um die Pluralität und
Öffentlichkeit des Diskurses auch im virtuellen Raum zu ge-
währleisten und um die Etablierung von Echokammern und
autonomen Teildiskursen zu unterbinden bzw. einzudämmen.
Die Kopplung des digitalen mit dem nicht-digitalen Diskurs-
raum und die entsprechende soziale, ethische wie juridische
Regulierung desselben stellt für die Demokratie, verstanden
als gemeinsame Lebensform, eine zentrale Herausforderung
dar, sodass diese Frage nicht nur technisch, sondern vor allem
auch ethisch und politisch beantwortet werden muss.
Digitalisierung und Demokratie