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aviso 2 | 2018

KUNST = MEDIZIN

COLLOQUIUM

gläschen, Röntgenplatten und sogar medizinische Lehr­

bücher in seine Objekte. Es handelt sich umMaterialien, die

symbolhaft auf Verletzung und Heilung, auf Vergänglichkeit

und Verfall anspielen.

BL:

Bereits in Ihrem ersten Buch über Joseph Beuys »Wolle,

Fett und Schwefel: Alte mythische Inhalte werden aktuell«

(Köln, Deutscher Ärzteverlag 1972) haben Sie auf die für

Beuys so wichtige Einheit von Leib und Seele verwiesen, die

auch moderne ganzheitliche Therapie-Ansätze auszeichnet,

aber bei Beuys auf einer fundamentalen Kenntnis der Geis­

tesgeschichte beruht.

AHM:

Sucht man nach den Grundprinzipien imBeuysschen

Werk, so reichen seine intellektuellen Wurzeln weit über die

Geschichte der abendländisch-christlichen Religion und

Heilkunde bis in die Prähistorie mit ihrem intuitiven und

atavistischen Verhaltensmustern zurück. Denn vor allem in

den uralten irrationalen und religiösen Weltvorstellungen

wie etwa im Schamanismus, im Animismus, in der Gnostik

oder in der Mystik herrschte ein ganzheitliches Weltkonzept.

Die Trennung von Leib und Seele, die die naturwissenschaft-

liche Medizin mit ihrer Entfaltung seit dem 18. Jahrhun-

dert mit sich gebracht hat, wollte Beuys wieder aufheben. Er

betrachtete sie als nicht hilfreich für die freie Entfaltung

des Menschen.

Schon in seinen figürlichen Zeichnungen der vierziger, fünf-

ziger und sechziger Jahre tritt vor allem ein ausgesprochen

prozesshafter, ganzheitlicher Charakter zu Tage. Häufig sind

Themen wie Geburt, Krankheit und Sterben zu finden. In

ihnen sind deutlich neben evolutionären Fragen spiritu-

elle Elemente des Heilens und Überwindens von Leid und

Schmerz vorhanden. Diese auch auf das eigene Denken des

Betrachters zielende künstlerische Tendenz lässt sich kon-

tinuierlich in allen Phasen seines künstlerischen Schaffens

verfolgen. Wie Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) hat er im

Menschen »das kranke Wesen« gesehen. Allerdings baute

er imGegensatz zu Nietzsche auf der christlichen Heilslehre

mit ihrem zentralen Bekenntnis zu den Werken der Barm-

herzigkeit, zu denen das Beherbergen, Ernähren und Pflegen

zählen, sein vielschichtiges Gedankengebäude auf.

BL:

Als Medizinhistoriker waren Sie Joseph Beuys ein kennt-

nisreicher Gesprächspartner, und als Kunsthistoriker ein

Autor, der die medizinischen Zusammenhänge in seinem

Werk entsprechend fundiert benennen kann. Denn bei aller

Intuition fußte es gleichzeitig auf einer soliden Vertrautheit

mit den Pionieren der Heilkunde, deren Philosophie so man-

chem Objekt zugrunde liegt.

AHM:

Es lag in seinem komplexen künstlerischen Konzept

nahe, dass sich Beuys folgerichtig auch mit der Heilkunde,

die die Menschheitsgeschichte von Anfang an begleitet, mit

ihrem Denken, Fühlen und Handeln, ihrer Moral und ihrer

Ethik beschäftigt hat. Dabei rückten für einen so ganzheit-

lich orientierten Künstler besonders die Außenseiter der

Medizin wie Paracelsus (1493–1541), Franz Anton

Mesmer (1734–1815) mit seiner Psychotherapie

oder Samuel Hahnemann mit seiner Homöopathie

(1755–1815) ins Zentrum seines Interesses. Diese

Ärzte verbanden als Grenzgänger der Schulmedi-

zin in der Regel die naturwissenschaftliche Me-

thodik, die durch das Messen, Wägen und Zählen

charakterisiert ist, mit metaphysischen Ideen und

spirituellen Eingebungen. Sie haben schon andere

Künstler, Dichter und Naturphilosophen seit der

Romantik wie Caspar David Friedrich (1774–1840),

Novalis (1772–1801), Friedrich Wilhelm Schelling

(1775–1854), den Arzt und Maler Carl Gustav Carus

(1789–1869), den Anthroposophen Rudolf Steiner

(1861–1925) und schließlich keinen geringeren als

Sigmund Freud (1856–1939) beeinflusst. Diese

außergewöhnlichen kreativen Persönlichkeiten,

die Leib, Seele und Geist des kranken Men-

schen in ihren philosophischen und therapeu-

tischen Konzepten wollten, standen ihm geistig

nahe.

In zahlreichen Zeichnungen und Aquarellen wie

etwa »Russische Krankenschwester« (1943), »Zwei

bandagierte Frauen« (1949), »Kalb mit Kindern«

(1950), »Mann mit gläsernemKindersarg« (1950),

»Im Haus des Schamanen« (1954), »Lazarus«

(1957), »Der Tod und das Mädchen« (1957) oder

das »Contergankind« (1963) klingt in ihrem sen-

siblen Duktus dieses für den Menschen existen­

tielle Spektrum bei Beuys motivisch unüberseh-

bar an. Das Thema menschlicher Verwundbarkeit

und Sterblichkeit hat dann in den sechziger und

siebziger Jahren mit den Beuysschen Plastiken

wie »Injektionsspritze mit Tonklumpen und

Streichholzschachtel auf Tannennadeln« (1963),

»Hasengräber« (1963–1967), »Rückenstütze eines

feingliedrigen Menschen (Hasentyp) aus dem

20. Jahrhundert p. Chr. (1977), »Die Kreuzschmer-

zen der Frau« (1978) oder »Cuprum 0,3% unguen-

tummetallicum praeparatum« (1978) eine weitere

Steigerung erfahren.

In ihnen allen spielen direkt oder indirekt Dia-

gnosen und therapeutische Hinweise eine we-

sentliche Rolle. Schließlich zieht Beuys in seinem

Alterswerk noch einmal in den graphischen Suiten

»Schwurhand« (1980) »Zirkulationszeit« und »Trä-

nen« (1985), in denen er teilweise auf sein früheres

zeichnerisches Oeuvre zurückgreift, eine künstle-

rische Bilanz seiner Sujets und Motive. Es entste-

hen außerdem noch die großen, thematisch mit

der Heilkunde verbundenen Installationen »Zeige

deine Wunde« (1976), »Schmerzraum« (1983) und

»Das Ende des 20. Jahrhunderts« (1984) – glanz-

volle Höhepunkte seiner von Schwermut durchzo-

genen Kunst.