Previous Page  22 / 52 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 22 / 52 Next Page
Page Background

22

st gutes Leben auf dem Land heute

reine Mode und Sehnsuchtsphäno-

men? Ist es mehr oder minder ein Privat-

vergnügen für gut situierte Neu-Eliten

der gehobenen Mittelschicht und des

eigentlich in der Stadt beheimateten sog.

expeditiven Milieus – Menschen, die

nach neuen Grenzen suchen und dabei

das Leben auf dem Land als Herausfor-

derung für sich entdecken? Finden sie auf

dem Land – und je peripherer und abge-

legener, desto besser – ihren Raum zur

Selbstverwirklichung? Mit vergleichs-

weise wenig Geld lässt sich dieses gute

Leben auf dem Land recht einfach eta-

blieren –mit aufgepeppten und sanierten

Häusern und viel Platz; also allem, was

in den heutigen Metropolen immer we-

niger möglich ist. Und im Zweifel kann

man sich ja immer noch eine kleine Zweit-

wohnung in der Stadt nehmen.

Kontrastprogramm zur

Flüchtigkeit unseres Lebens?

Das gute Leben auf dem Land: Es ist die

Sehnsucht nach entschleunigender Na-

turnähe, Verlässlichkeit, praktisch-hand-

werklichem Tun (iKleinbäuerlichkeitl)

und dem Zusammenhalt einer lokal ge-

bundenen Gemeinschaft – Werte, die

im 21. Jahrhundert durch die Flüchtig-

keit und Schnelligkeit der Digitalisierung

scheinbar zu verschwinden drohen. So

scheint sich etwa die Vorstellung prak-

tisch-handwerklicher Arbeit als struktu-

relles Merkmal von Ländlichkeit umso

stärker in unsere Vorstellungswelt einzu-

brennen, je vehementer eine sich selbst

beschleunigende und urbanisierte Wis-

sensgesellschaft um sich greift, in der das

Jonglierenmit Symbolen amEnde des Ta-

ges dann doch kein griffiges und greiwares

Ergebnis produziert. Wie sehr beruhigt

dann die amHorizont erscheinende Aus-

sicht, dass es im Ländlichen ganz anders

zugeht. Würde man doch nur auf dem

Land wohnen können und im eigenen

Nutzgarten all das kompensieren, was das

Leben in der Stadt geschluckt hat. Es ist

ein Blick, der aus der Stadt aufs Land ge-

richtet ist und davon ausgeht, dass Stadt

und Land fundamental unterschiedlich

sind. Zugleich, und so nüchternmussman

das wohl sehen, ist genau diese Sehnsucht

nach dem guten Landleben eigentlich

›nur‹ eine, aber effektive Kopfgeburt. Sie

stellt eine Raumsemantik dar, die des-

halb gut funktioniert, weil sie es mühelos

schafft, viele Aspekte der Wirklichkeit

ländlicher Regionen unerörtert zu lassen.

Ausblendungen

Aber was wird in dieser Raumsemantik

eigentlich ausgeblendet? Natürlich die

Landwirtschaft, die sich als globalisiertes

und industrielles Agrobusiness entpuppt.

Ländliche Gebiete sind kaumnoch klein-

bäuerlich strukturiert, weil diese Struk-

turen aufgrund fehlender Skaleneffekte

nicht auf dem Weltmarkt konkurrieren

und somit überleben können. Der Baye-

rische Agrarbericht von 2018 zeigt das:

So ist die Zahl der Betriebe mit kleinen

Flächen insgesamt rückläufig, während

die größten Betriebe wachsen; das passt

so gar nicht zur Vorstellung vom guten

Leben auf demLandmit kleinbäuerlicher

Landwirtschaft. Die so oft gepriesene

Digitalisierung sorgt dafür, dass selbst

in der Landwirtschaft die Bedeutung des

Arbeitens mit der Hand arg reduziert er-

scheint –mit mehrfachenGPS-Systemen

ausgerüstete Traktoren machen die steu-

ernde Hand des Menschen überflüssig,

erfordern aber technologische Kompe-

tenz. Und was auch ausgeblendet wird,

ist das ieigentlichel Leben für die orts-

ansässigen Menschen, die in peripheren

Regionen leben und dort ihre Wurzeln

und Heimat haben, die dort verankert

und gebunden sind. Es sind Menschen,

die – aber wie sollte es auch anders sein?

– grundsätzlich ähnliche Herausforde-

rungenwieMenschen in Städten zumeis-

tern haben und die oft alles andere als eine

harmonische soziale Einheit bilden.

Probleme ländlicher Räume

Dieses ieigentlichel Leben auf demLand

ist also nur in den seltensten Fällen kon-

gruent mit jenem guten Leben auf dem

Land, das gerade eine Renaissance als

Sehnsuchtsort erfährt. Insbesondere pe-

riphere Orte sind überproportional von

Schrumpfung und daraus resultieren-

den Nahversorgungs- und Mobilitäts-

problemen gekennzeichnet. Im letzten

Raumordnungsbericht konnte man le-

sen, dass mehr als die Hälfte aller Dör-

fer und Kleinstädte in Ostdeutschland

zwischen 2005 und 2015 um mehr als

10% geschrumpft sind. Vor allem junge

Menschen verlassen im Zuge einer Bil-

dungswanderung die Dörfer, in denen sie

aufgewachsen sind; zumeist in die Zent-

ren und Agglomerationen zu Ausbildung

und Studium. Das ist, bei der aktuellen

Wertschätzung akademischer Karrieren,

verständlich, hilft aber den betroffenen

Gemeinden nicht direkt. Umso wichtiger

ist es, Beziehungen zu den Wandernden

aufrecht zu halten und Anreize für ihre

Rückkehr zu geben. Gute Beispiele mit

I

Thema LandLeben