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und ›Müssen‹) nun in der Stadt selbst zu
schließen? Dazu passt die Beobachtung,
dass sich immer mehr Stadtbewohner
und Stadtbewohnerinnen kleine und
letztlich ländlich anmutende Oasen im
urbanen Umfeld schaffen. In die Stadt
hält also ein als ländlich gerahmter Le-
bensstil Einzug und verwischt die Unter-
scheidung zwischen Stadt und Land. Im
Zuge dessen engagieren sich Menschen
beim Ausleben dessen, was der russische
LiteraturwissenschaftlerMichail Bachtin
als Idylle des handwerklich-praktischen
Landlebens bezeichnet hat – nun ausge-
übt in der Freizeit und in der Stadt. Da-
hinter steckt eine Vielfalt von Ursachen:
Wer beispielsweise gärtnert, häkelt oder
Marmelade einkocht, schafft ausdrück-
lich einen Gegenpol zu einem sich letzt-
lich immer weiter beschleunigenden
Alltag. In Großstädten entstehen somit
immer mehr dörflich anmutende Rück-
zugsräume – zum Beispiel durch Urban
Gardening, also Gartenpflanzungen in
der Stadt, und durch Einzug von gemein-
schaftlich betriebenen Selbsterntegärten
oder einer solidarischen Landwirtschaft.
Das alles passt gut zur vomSoziologenRi-
chard Sennett festgestellten Renaissance
der Kultur desHandwerklichen. Daneben
ist der Aspekt der Lebensmittelsicherheit
und selbst ausgeübter »Lebensmittelkon-
trolle« wohl nicht zu vernachlässigen.
Wer sein Gemüse selbst anbaut oder es
»aus der Nähe« konsumiert (etwa bei lo-
kalen Gärtnereien mit direktem Hofver-
kauf ), meint zu wissen – im Gegensatz
zur industriellen Produktion – was drin
ist und wo es genau herkommt: Räum-
liche Nähe scheint eine eingebaute Ga-
rantie für das gute Gefühl der Kontrolle
über die konsumierten Lebensmittel zu
sein. Und schließlich rücken Aspekte des
Aufpassens und der Geborgenheit (beide
als positive Umschreibungen dessen, was
man pejorativ sonst unter demBegriff so-
ziale Kontrolle verbucht) in den Fokus,
insbesondere wenn es um die neue Auf-
wertung von Nachbarschaften und um
quartiersgebundene Sorge geht. Dass
dieser Prozess auch politisch im Sinne
der Etablierung selbstverantwortlicher
Strukturen in der Stadtgesellschaft ge-
fördert wird, ist dann nur konsequent.
Ein Gedankenspiel und
die Zukunft des Ländlichen
Modernisierung bedeutete in raumbezo-
gener Hinsicht für viele Jahrzehnte, dass
man die städtischen Annehmlichkeiten
in infrastruktureller Hinsicht aufs Land
zu bringen habe. Wir können heute mit
der Verdörflichung der Städte vielleicht
eine andere Form der Modernisierung
erkennen: eine, die sich mit Stärkung
des Sozialen und Ökologischen als nach-
haltige und entschleunigende Moderni-
sierung entpuppen könnte – die aktuelle
politische Diskussion um den Wert von
»Grün in der Stadt« und die Ideen des
Postwachstums bestätigt das nur. Unse-
re Städte gewinnen dadurch (mit dem
Einkopieren der Idee des guten Lebens
auf dem Land) zumindest an Attraktivi-
tät und Formenreichtum – an erforder-
licher Varietät (Ross Ashby) und damit
Handlungsspielräumen. Das alles ist
nicht weiter problematisch, solange wir
dann als Stadtbewohnerinnen und Stadt-
bewohner, die wir heute weltweit gese-
hen ja sind, nicht in Selbstgenügsamkeit
und Freude angesichts des Triumphs der
Städte (Edward Glaeser) ertrinken und
damit die ländlichen Lebensverhältnis-
se selbst aus dem Auge verlieren – oder
ihnen nur mit dem oben beschriebenen
urbanen Blick begegnen. Das wird ihrer
Vielfalt und den vielfältigen sozialenKon-
stellationen in den Orten nicht gerecht.
Was notwendig ist, ist ein neues Interesse
an ländlichen Gebieten, den Menschen
dort und ihren Lebensleistungen: nüch-
tern und offen, frei von überbordenden
Ansprüchen sowie die Menschen, ihr
Leben und ihre Alltagswelten ernst neh-
mend. Man darf ja nicht vergessen, dass
ein Großteil des urbanen Lebens nur
möglich ist, weil viele ermöglichende
Leistungen dazu in ländlichen Räumen
erbracht werden (man denke nur an die
Nahrungsmittelproduktion, Energieher-
stellung und andere Infrastrukturen der
Ver- und Entsorgung). Ein erster und
emanzipierender Schritt dazu wäre, mal
zu fragen, was denn die Menschen, die
auf dem Land leben, unter »gutes Leben
auf dem Land« verstehen. Wie wir es als
Städterinnen und Städter sehen, wissen
wir zur Genüge. Aber das reicht nicht.
Gutes Leben auf dem Land?
Professor Dr. Marc Redepenning ist Inhaber
des Lehrstuhls Geographie I (Kulturgeo-
graphie mit Schwerpunkten im Bereich der
Sozial- und Bevölkerungsgeographie) an
der Otto-Friedrich-Universität Bamberg.
Das Thema des Landlebens hat er vor
etwa zehn Jahren für sich entdeckt. In seiner
Zeit an der Universität Jena erlebte er 2007
das yElefantenfest‹, das im Dorf Niederroß-
la alle 25 Jahre gefeiert wird und auf einen
Besuch einer Wandermenagerie im Jahr 1857
zurückgeht. Dabei ist in dem Ort auf un-
geklärte Weise ein Elefant gestorben. Es
faszinierte ihn, wie die Dorfbewohner
diese Tradition über Jahrhunderte pflegen,
ihr Wissen an die nächste Generation
weitergeben und darüber eine besondere
lokale Identität entwickeln.
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blog.soziologie.de/2017/08/rurbanita-et-am-beispiel-des-urbanen-garten-
baus-in-bamberg/