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aviso 2 | 2018
KUNST = MEDIZIN
RESULTATE
ren. Glücklicherweise erreichte uns ein Wink aus dem bay-
erischen Kunstministerium, das Auswärtige Amt stelle, im
Auftrag des deutschen Parlaments, Mittel für Projekte in den
östlich der EU-Grenze gelegenen europäischen Ländern zur
Verfügung. Eine solche Förderung würde uns Rückenwind
geben, weitere Förderer und Unterstützer zu finden für
Eine
Brücke aus Papier
, die wir schließlich 2015 in Lwiw/Lemberg
aus der Taufe heben konnten.
ZUM ERSTEN MAL
stieß ich auf die Brücke aus Papier in dem
Essay »Der Angriff auf Mitteleuropa« des Lemberger Germa-
nisten, Gruppenanalytikers und Übersetzers Jurko Prochasko,
den er für eine der genannten Anthologien verfasst hatte.
Über die Wertegemeinschaft Europas reflektierend, die für
Prochasko in der Erfahrung Mitteleuropa schon immer vor-
handen war, folgert er: »Lange habe ich mich bemüht, das
ukrainische Ostgalizien als Teil Mitteleuropas zu ergründen.
Es sollte eine Brücke aus Papier sein. Gedächtnisbrücke, Luft-
brücke, Landbrücke, Landungsbrücke. Nun, nach demMaidan,
erweitert sich das mitteleuropäische Territorium – und zwar
nicht von Ostgalizien ausgehend, sondern von Kiew – auf das
gesamte ukrainische Gebiet.« Als ich beimAutor nachfragte,
ob ich seine »Brücke aus Papier« als Titel für das geplante Pro-
jekt eines deutsch-ukrainischen Schriftstellertreffens entlei-
hen dürfe, schrieb er mir, es handele sich um ein literarisches
Zitat. Er verwies mich auf den ostgalizischen, aus Zablotow
stammenden, deutschjüdischen Schriftsteller Manès Sperber.
In seinen Kindheitserinnerungen erzähle Sperber von einer
Brücke aus Papier, die, einer frommen Legende der Chassidim
seines Städtchens zufolge, amTag des Herrn über demFluss
Pruth erscheinen werde. Die ukrainische Lyrikerin Halyna
Petrosnayak aus Iwano-Frankiwsk, schrieb mir Jurko Pro-
chasko weiter, habe vor kurzem einen Gedichtzyklus
Brücke
aus Papier
über Sperber und seinen Herkunftsort veröffent-
licht. Die Brücke hatte also schon ihre Wirkung begonnen.
Bücher und Texte, so unsere Deutung dieser ostgalizischen
Metapher, bilden Brücken aus Papier, die sich als haltbarer
und belastbarer als jede Eisen- Stein- oder Betonkonstruk-
tion erweisen, weil sie sich ins menschliche und damit kul-
turelle Gedächtnis einzeichnen. Die Aufforderung allerdings,
die amAnfang des Projekts, beimTreffen von Lwiw von Karl
Schlögel ausgesprochen wurde, bleibt uns bis heute lebhaft in
Erinnerung: »Der Hauptertrag einer solchen Veranstaltung
inmeinen Augen wäre: Erfahrungen zu sammeln, Erfahrun-
gen von einer extrem gefährlichen Situation, sich umzusehen
in einem Land, von demwir sehr wenig wissen, Einübung in
eine Nachbarschaft, sodass die Ukraine ihren festen Platz auf
unserer inneren Landkarte bekommt, behält, nie mehr von
dort verschwindet – und dass die Schriftsteller dazu einen
Beitrag leisten: wenn sie es denn können.«
VOM ERSTEN TREFFEN
an erfuhren wir, was geschehen
ist in diesem großen europäischen Land, von dem wir so we-
nig wussten, was Krieg und territoriale Übergriffe im Ein-
oben
Drittes Deutsch-Ukrainisches Schriftstellertreffen, Charkiw 2017.
© Oleksiy Makovetsky