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Man kann sich denken, dass die Brücke aus Papier nicht funk-

tionieren kann ohne die zahlreichen literarischen Übersetzer.

Glücklicherweise haben wir in der Ukraine und im deutsch-

sprachigen Raum exzellente, kenntnisreiche Übersetzerin-

nen und Übersetzer, von denen auch wichtige Impulse ausge-

hen. Manchmal sind es auch die ukrainischen Schriftsteller/

innen, die entscheidende Hinweise geben, wie das Beispiel der

Entdeckung des seit 1995 inMünchen lebenden russischspra-

chigen Schriftstellers und Künstlers Alexander Milstein aus

Charkiw zeigt. Sich ein wenig über meine Unkenntnis mo-

kierend, haben Juri Andruchowytsch und Serhij Zhadan ihn

mir bei ihrem Aufenthalt in München vorgestellt. Es führte

dazu, dass er als Münchner Autor zum Treffen nach Char-

kiw eingeladen wurde. Der Zufall wollte es, dass wir dort in

der Divochastraße tagten. Wie sich herausstellte, waren aus

einem der wenigen Häuser dieser Straße 1943 seine Groß­

eltern mit seiner Mutter, die noch ein kleines Kind war, vor

der sicheren Vernichtung durch die heranrückenden Deut-

schen Richtung Taschkent evakuiert worden. Wahrscheinlich

ist es unausweichlich, dass ein Projekt wie

Eine Brücke aus

Papier

auch die gemeinsame Geschichte aufrührt und damit

zur Versöhnung beiträgt.

BIS HEUTE ERWEIST

sich der Name, der auf Ukrainisch

Міст з паперу

heißt, so fragil er uns anmutet, als tragend.

Jeder scheint ihn gerne auszusprechen, auch die Moderatorin-

nen des ukrainischen Fernsehens, bei denen wir Interviews

geben. Der der Literatur entliehene Name prägt sich leicht

ins Gedächtnis ein, nutzt sich nicht ab, obwohl wir dieses

Jahr schon das vierte deutsch-ukrainische Schriftstellertref-

fen in der vierten Stadt planen. Aufgrund seines jüdischen

Ursprungs erinnert er uns an die schmerzliche gemeinsame

Geschichte, auf die wir in der Ukraine auf Schritt und Tritt

stoßen. Eine Lehre der jährlichen literarischen Expedition

ins unbekannte Land.

Es sieht so aus, als hätten wir Jurko Prochaskos Wunsch er-

füllen wollen. Von Lemberg/Lwiw in der Westukraine aus-

gehend, 2015 der erste Ort des deutsch-ukrainischen Schrift-

stellertreffens, wo der Zugang zu ukrainischer Literatur und

Kultur leichter erschien, sind wir mit der Papierbrücke jähr-

lich weiter ostwärts gezogen. Eine heterogene Gruppe, glei-

che Zahl Männer und Frauen, Autoren, Künstler, Historiker,

zelnen und in den Familien auslösten. In der Ukraine ha-

ben fast alle Kindheitserinnerungen an die Krim, von denen

sie nun abgeschnitten waren wie Ausgestoßene. Traumati-

sierte Flüchtlinge von der Krim, aus dem Donbass, sollten

wir in allen Brücke-Städten treffen. Zuletzt beim Treffen in

Charkiw, als eine unserer ukrainischen, aus dem Luhansker

Gebiet geflohenen Schriftstellerinnen, Ljubow Jakymchuk,

mit einem, als literaturwissenschaftlich geplanten Vortrag

über den futuristischen Dichter Michail Semenko, vielmehr

von Krieg und Flucht und Töten sprach. Da war der Krieg

plötzlich mitten unter uns. Wir Deutschen verstummten,

nicht so Jakymchuks ukrainische Kolleginnen und Kollegen.

Sie erhoben zwar deutliche Kritik an ihrem Vortrag, aber sie

schienen die junge Dichterin gleichzeitig auffangen, die Hand

schützend über sie halten zu wollen. Hier zeigte sich die Sou-

veränität und Emanzipiertheit der ukrainischen Schriftsteller

und Schriftstellerinnen, die Orangene Revolution undMaidan

mitgetragen hatten. Ihr Schreiben kommt aus einem andern

Impuls als das der deutschsprachigen Gegenwartsschrift-

steller/innen. Serhij Zhadan und Oksana Sabuschko, große

Stimmen der ukrainischen Literatur, brachten dies mehr-

fach bei unseren Treffen zumAusdruck: Die Literatur hat die

Aufgabe Wunden zu heilen, bewusst zu machen, ihre durch

eine Geschichte des Leids hindurchgegangene ukrainische

Leserschaft wiederaufzurichten. Dafür hat sie die höchsten

Formansprüche zu erfüllen. Die bei den Treffen anwesenden

deutschen Schriftsteller und Schriftstellerinnen, deren Schrei-

ben ich als existentiell, imÜbrigen nicht weniger notwendig

bezeichnenmöchte, haben diesen Unterschied durchaus emp-

funden. Deshalb war ein Gespräch über Literatur möglich und

gerade hier fand die Begegnung statt, während der Vorträge

und Diskussionen in der öffentlichen Tagungssituation, im

intimeren Gespräch bei den gemeinsamen Mahlzeiten oder

während der Ausflüge in die Stadt, durch die ortsansässige

Schriftsteller oder Künstler uns führen.

BEI DER LANGEN

öffentlichen Lesenacht dann, bei der alle,

deutsche wie ukrainische, Schriftsteller/innen, ein jeder mit

einer Zehnminutenlesung im Wechsel auftreten, findet die

Begegnung ihren Höhepunkt. Vorgetragen wird natürlich

das Original, im Kopfhörer ist die Übersetzung zu hören,

eine Herausforderung für die Dolmetscher unseres Treffens,

Juri Durkot und Halyna Kotowski, hinter der Bühne. Bei die-

sen Lesungen zeigt sich die Annäherung. Die ukrainischen

Schriftsteller/innen sind Performer, stehen auf der Bühne

amMikro, zeigen Körpersprache undWitz, bei aller Schwere

des Textes. Für die Deutschen ist diese Lesesituation, bei

der sie alleine vorne auf der Bühne stehen, ungewohnt, aber

sie lassen sich gerne anstecken. Ebenso wie das Publikum,

das in den ukrainischen Städten mehrheitlich aus jungen

Leuten besteht, die dann beim Auftritt der jungen Schrift-

stellerin Noemi Schneider über deren humorvollen Vortrag

in deutscher Sprache, versteht sich, lachen konnten. So ent-

steht eine Feststimmung. In Charkiw, wo wir mit der Lese-

nacht im Haus der Schauspieler zu Gast waren, endete der

Abend gar in einem Auftritt Serhij Zhadans mit Band, also

im Tanz.

aviso 2 | 2018

KUNST = MEDIZIN

RESULTATE

rechte Seite

Von links nach rechts: Erstes Deutsch-Ukrainisches

Schriftstellertreffen, Lwiw 2015.

Verena Nolte, Grigory Sementschuk, Zweites Deutsch-Ukrainisches

Schriftstellertreffen Dnipro 2016.

Petra Morsbach im Menorah Zentrum, Dnipro 2016.

Fridolin Schley, Jan Himmelfarb, Dnipro 2016.

Noemi Schneider, Juri Andruchowytsch, Charkiw 2017.

Serhij Zhadan, Lange Lesenacht, Lwiw 2015.

Ljubow Jakymchuk, Charkiw 2017.

Christian Schnurer, Natalya Kulabucha, Juri Durkot,

Eröffnung Ostexport in der Ya Gallery Dnipro 2016.

Eine Brücke aus Papier zu Besuch im Menorah Zentrum, Dnipro 2016.

Lange Lesenacht, Charkiw 2017.

© Taras Gakavchyn | Juri Stepanyak | Ya Gallery | Oleksiy Makovetsky