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aviso 1 | 2018
SKIZZE UND IDEE
COLLOQUIUM
pischen Kollidiereskapaden‹ einfielen. Diese Form, vorher,
vor allem in den Filmbüchern schon angelegt, wird nun im-
mer weiter ausgefahren, mit Bänden wie
Die Lücke, die der
Teufel lässt
(2003),
Tür an Tür mit einem anderen Leben
(2006),
Das fünfte Buch. Neue Lebensläufe
(2012),
Kongs
große Stunde
(2015), dazu die thematisch enger gefassten
Bände wie
Geschichten vomKino
(2007),
Das Labyrinth der
zärtlichen Kraft
(2009),
Das Bohren harter Bretter
(2011)
oder
30. April 1945
(2014). Diese kleine Bibliothek ist Teil
eines großen
work in progress
, an dem der Autor schreibt,
ein Panorama von Sammelbänden, das immer wieder um-
gebaut, neu kombiniert und erweitert wird. Seit der
Chronik
der Gefühle
wirken diese Bände zunehmend wie eine Einheit.
Polyhistor.
Will man diese Einheit beschreiben, fällt zuerst die Weite des
Repertoires auf, die umfassende Neugier auf Welt: »Lesen
ist Sammeln. Ich erfinde nicht, ich entdecke.« Kluges Blick
ist der eines Polyhistors, auf allen Gebieten, ob er sich über
die Biokosmisten in der Sowjetunion, die luxuriösen Pissoirs
in europäischen Behörden, den dicken kranken Napoleon
oder die Erfindung des Klebers in der Antike als Beginn der
Moderne Gedanken macht. »Wiz weidet auf allen Fluren«,
so Jean Paul; »die Stalfütterung nur fürs Rindvieh«. Die
barocken Polyhistoren waren Sammler, Bibliographen, Vor-
läufer der Enzyklopädisten. Alles, was jemals als Weltge-
schichte, Literatur oder Philosophie gesammelt worden ist,
sollte umfassend dokumentiert, dieses Wissen sollte ›dis-
zipliniert‹, eingeteilt werden. Als »geübter wissenschaft-
lich-anarchistischer Mensch«, als der Kluge sich sieht, zeigt
sich seine Polyhistorie nicht interessiert an einer Einteilung
in Einzeldisziplinen: Er kann unendlich weitererzählen,
solange sein nervöses Sensorium Geschichten findet, die
sich umformen und in seiner Art, filmisch oder literarisch,
gestalten lassen. Polyhistoren haben keine hierarchisierende
Sicht auf Welt, sie pflegen einen erzdemokratischen Umgang
mit demWissen um Teil und Ganzes. Aus jedemDetail, aus
jeder Neben-Geschichte lässt sich eine Haupt-Geschichte
eigenen Rechts erzählen, in unendlicher Progression. Wir
sollen ihm vertrauen, weil der »Erfahrungsgehalt« stimmt,
jenseits einer faktischen Ebene: »Ich gehöre zur ›Kritischen
Theorie‹ und werde den Leser nicht betrügen. Die Verwal-
tung der Authentizität darf er mir überlassen.« Nicht hie-
rarchisierend heißt, dass die großen Namen schon auch da
sind, es würde gerade nicht die Geschichte von Cäsars Koch
erzählt oder die Geschichte Cäsars aus dem Blick des Kochs,
sondern die Geschichten Cäsars und des Kochs, gleichbe-
rechtigt, dazu vielleicht noch die Geschichte aus der Per-
spektive eines bestimmten Kochlöffels, in dem auch lange
menschliche Erfahrung steckt.
Auch die ästhetische Form ist beiordnend: Die Verweige-
rung der großen dramaturgischen Bögen, das Erzählen von
Gegen-Geschichten funktioniert nur vor demHintergrund
der Bekanntheit ›üblicher‹ Dramaturgien, der Schemata aus
Exposition, Entwicklung, Lösung bzw. Katastrophe, die Ver-
weigerung des Handlungs-Primats funktioniert nur, weil
die Leser sonst an dieses Primat gewöhnt sind. Und sie sind
nicht darauf angewiesen, die Reihenfolge auch einzuhalten:
Diese Bücher lassen sich an jeder Stelle aufschlagen und
lesen, jedes Segment kann für sich stehen, kann »Momente
der Überraschung«, von »besinnungslosemGlück« auslösen.
Das Dialogische.
Mit der Vielfalt seines Werks und seinen ästhetischen Prin-
zipien forciert Alexander Kluge immer wieder Anschluss
fähigkeit, die nicht zuletzt auch durch Montage entsteht, eine
zurückhaltende, man kann sich seine Ordnungen in Kluges
Büchern auch selber suchen. Texte sind etwas Festgehaltenes,
Fixiertes, können dadurch auch hermetisch sein – um sie in
Bewegung, in Fluss zu bringen, muss man über sie reden.
Und Literatur kann auch mit anderem korrespondieren,
mit Bildender Kunst etwa. Kluge hat eine Fülle dialogischer
Bücher herausgebracht, mit Georg Baselitz, Gerhard Rich-
ter, mit Ferdinand von Schirach, Rainer Stollmann, seine
theoretischen Arbeiten zusammen mit Oskar Negt, und Sie
alle haben ihn als Fragenden im Ohr, als neugierigen Men-
schen, der wirklich wissen will, was andere zu bestimmten
Dingen und Fragen denken. Da geht es auch um demokra-
tische Verfahren: Jede, jeder kann ihre/seine Geschichten
in die Lücken der Montage bringen, nach den eigenen An-
schlüssen suchen, Lücken zwingen gerade dazu, sich selbst,
die eigene Phantasie, die eigenen Gefühle hineinzutragen.
Die Welt, die durch Kooperation vielleicht noch zu retten
ist, wird hier auch als eine Welt der Kommunikation gezeigt.
Bei diesemDarüber-Sprechen zeigt sich auch: Es gibt keine
Erzählung ohne Mehrdeutigkeit, ohne Polyphonie; die Vor-
geschichten, historische Traditionen, klingen mit, die Kon-
stellation, in der sie im Band stehen, und der Zusammen-
hang mit dem, was tatsächliche Menschen tun.
Komik/Groteske.
Der Namensgeber dieses Preises, Jean Paul, hat in einem
seiner vielen berückenden Momente in der
Vorschule der
Ästhetik
beschrieben, was seiner Meinung nach ein Humo-
rist ist: »Er gleicht dem Vogel Merops, welcher zwar dem
Himmel den Schwanz zukehrt, aber doch in dieser Rich-
tung in den Himmel auffliegt.« Der Merops ist ein Bienen-
fresser, in Deutschland hat man der Schwanzmeise (dem
›Pfannenstielchen‹) Ähnliches nachgesagt. Das klingt nach
einem idyllischen Bildchen, ist aber doch etwas anderes, eine
Metapher für den Blick des Poeten: Er entfernt sich mit sei-
nem Flug von der sinnlichen Welt, aber er bekommt auch
immer mehr in den Blick durch seine Bewegung. In seinem –
Rücken (um es mal so zu sagen) ist der Himmel, die
links
Stills aus den kurzen Filmen, die Alexander Kluge im
Rahmen seiner Lesung zur Jean-Paul-Preis-Verleihung
zeigte:
Anatomie eines Kentauren/Phantasie als »Pferd«/
Mehrfachbilder/Timbuktu Silvester 1789/General
Suworow und die Marquise von O.
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