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aviso 1 | 2018
SKIZZE UND IDEE
COLLOQUIUM
Alexander Kluge hat einmal gesagt, »wenn ich mit mir allein
bin und Zeit habe – würde ich schreiben. Das einzige, was
mir beim Buch fehlt, ist Musik und bewegtes Bild«. Damit
hat er seinem Medium – einem seiner Medien – ein großes
Kompliment gemacht und gleichzeitig fundamentale Ein-
schränkungen formuliert.
In ein paar Minuten das Werk Kluges zu würdigen, hat seine
Schwierigkeiten, auch wenn es sich um einen Literaturpreis
und somit nur um einen Teil des Gesamtwerks handelt. Hinzu
kommen ganz subjektive Einschränkungen – es passiert
einem ja nicht oft im Leben, dass ein Autor, der für eigene
Prägungen mitverantwortlich ist, über so viele Jahre da ist,
dass er sein Werk weiter ausbauen kann, dass man seinen
Veränderungen immer weiter folgen kann – das ist ein großes
Glück. Es waren vor allem zwei Filme und die zugehörigen
Filmbücher,
Die Patriotin
(1979) und
Die Macht der Gefühle
(1983), die mir als knapp Zwanzigjährigem eingeleuchtet
haben: Genau so könnten Geschichten erzählt werden, die
unserer Zeit angemessen sind; in Erzählstrukturen, die nicht
nur das 19. Jahrhundert fortschreiben, die multiperspek-
tivisch sind, offen, frech, neugierig, auch zornig auf diese
Welt um uns herum, ohne sie herablassend zu benörgeln.
Filme, die man sieht, wie man eine gelungene Symphonie
hört, jede Minute der exzessiven Montagefilme bringt neue
Überraschungen, Blickwechsel, Komplexionen und Vereinfa-
chungen, Ebenenwechsel – auch wirklich Musik. Und Sätze,
die einen ein Leben lang nicht verlassen: »Alle Gefühle glau-
ben an einen glücklichen Ausgang.« – »Jeder Mensch hat alle
Gefühle. Hätte jeder nur eins, wäre es vom Standpunkt der
Bindekunst einfacher.« – »Je näher man ein Wort ansieht,
desto ferner sieht es zurück. DEUTSCHLAND«.
Text:
Sven Hanuschek
Kluges Werk war für viele wie für mich so etwas wie ein
kognitiver Welt-Öffner, durch sein Erzählen wie durch
sein Analysieren, durch seine Lust am Beobachten, an den
Sinnen, am Vielwissen, an Philosophie und Theorie, die in
ihrer Weise ja auch welterschließende, mitunter poetische
Erzählungen sind. Kluges Lust an unverhofften Sprüngen
und Kombinationen, sein gewaltiges Repertoire, vielleicht
noch Universalität, die es ja nicht mehr gibt, aber vielleicht
doch ein bisschen. Wenn Sie Kluges Werk betreten, betre-
ten Sie einen Kosmos, und ich versuche im Folgenden, ein
paar Winkel dieses Kosmos zu benennen.
›Frühwerk‹.
Ich beginne mit den ersten Büchern Kluges, am Anfang ste-
hen die
Lebensläufe
.
Anwesenheitsliste für eine Beerdigung
(1962), darunter einige der bekanntesten Erzählungen wie
Ein Liebesversuch
oder
Anita G.
, aus der der Film
Abschied
von gestern
(1966) geworden ist, ein Band, der Kluge sofort
bekannt machte und der seine vielleicht wichtigste Form,
den Lebenslauf, einführte. Mit den hier erzählten lässt sich
darüber nachdenken, was das faschistische Erbe in Deutsch-
land bedeutet hat, wie soll man damit umgehen, welche
Leben wurden wie zerstört durch diesen Teil der deutschen
Geschichte? Diese Fragen hat Kluge vor mehr als einem hal-
ben Jahrhundert gestellt, als der Auschwitz-Prozess noch
bevorstand, der Eichmann-Prozess gerade erst abgeschlos-
sen war. Von den auch problematischen Entwicklungen,
der Bewältigungsindustrie, war noch nichts zu sehen. Hier
gibt es schon ungewöhnliche Erzählperspektiven, die sich
in den nachfolgenden Erzählungsbänden,
Lernprozesse mit
tödlichem Ausgang
(1973),
Unheimlichkeit der Zeit. Neue
rechts
Alexander Kluge bei seiner Lesung im Rahmen der
Jean-Paul-Preis-Verleihung des Freistaats Bayern
im Max-Joseph-Saal der Münchner Residenz am 11. Dezember 2017.
© Steffen Leiprecht
Laudatio auf Alexander Kluge zur Verleihung des Jean-Paul-Preises 2017
»Ich erfinde nicht,
ich entdecke«