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DAS 21. JAHRHUNDERT

ist ein Zeitalter der Bilderflut. Nahezu

jedem ist überall und permanent eine digitale Kamera zur Hand

und das Festhalten vonMomenten, Bauwerken und Stadtpano-

ramen imBild eine gängige Praxis. Auf Reisen und vor bedeuten-

den Bauwerken wird fotografiert – ob mit oder ohne personelle

Begleitung schafft sich jeder seine individuelle Bilderinnerung

und verbreitet diese oftmals über die sozialen Netzwerke. Auf

der anderen Seite zielt die professionelle Architekturfotografie

durch technische Perfektionierung und Nachbearbeitung auf ein

perfektes Abbild und nur einzelne, ausgesuchte Bilder repräsen-

tieren Bauten und Städte in Pub-

likationen, Fachzeitschriften und

Onlinemagazinen. Durch sie wird

die Öffentlichkeit über die aktuel-

len, weltweiten Bauvorhaben und

-ausführungen informiert. Die

Fotografie befördert die Diskus-

sion über Neubauten, Umbauten

und städtebauliche Maßnahmen –

weit über eine Region hinaus. Es

ist im Grunde nicht mehr nötig,

Kunstreisen zu unternehmen, um

an den Gesprächen über die neu-

esten baulichen Entwicklungen

teilzuhaben.

Kritiker sprechen allerdings einer

gängigen idealisierenden Archi-

tekturfotografie, die sich als reine

Wiedergabe formaler oder kons­

truktiver Lösungen versteht, ihre Aktualität ab, da oftmals

gegenwärtige gesellschaftliche und zeitgeschichtliche Entwick-

lungen ausgeblendet werden und pure Architektur vermittelt

wird – wie sie sich so in der Realität nicht darstellt. Margareth

Otti geht in diesem Zusammenhang von einer aktiven, zeit-

dokumentarischen Rolle des Fotografen aus: »Diese Solitäre,

diese Icon Buildings, wirken auf Fotografien in Publikationen

angesichts des Zustands der Welt nach zwei Wirtschaftskrisen

seltsam deplatziert, ein bisschen so wie Abbildungen von Dino-

sauriern, wie zynische Statussymbole der Vergangenheit. Was

in der Kunstwelt der Galerist, ist in der Architekturwelt der

Fotograf: Er hat die Macht, denWert des Objektes zu steigern.«

(Fotogeschichte 2014). Auch AndrewHigott und Timothy Wray

beschreiben die gegenseitige Abhängigkeit von Objekt und

Medium und gehen gleichzeitig von der Selbständigkeit der

Kamera aus, von der bewusst eingesetzten Bildsprache: »The

camera invariably constructs what it depicts. The photograph

is not a simple representation of an external reality, but con-

structs its meaning and reconstructs its subject.«

ARCHITEKTUR ALS TEIL VON MENSCHLICHEN PROZESSEN

Auch wenn sich ein Großteil der Architekturfotografie dem kon-

textfrei angelegten idealen Abbilden von Architektur widmet,

ohne Einbeziehung der Alltagssituation, zur der die Nutzer, die

Menschen und Autos auf den Straßen, Verkehrsschilder, Stadt-

möbel, Anbauten oder Klimaanlagen sowie die umliegenden

Nachbargebäude gehören, konzentrieren sich durchaus eine

Reihe von Fotografen der Gegenwart auf die Darstellung der

Spuren der gegenseitigen Wechselbeziehung von Gesellschaft

und Architektur. Sie liefern wichtige Informationen darüber,

wie die Bauten funktionieren, wenn die Baufirmen das Gelände

verlassen haben oder wie sich Stadt- und Dorfstrukturen durch

die Bewohner und deren soziale und kulturelle Prägung oder

wirtschaftliche Faktoren verändern. Architektur wird in dieser

Form der Fotografie nicht als autonomes Objekt, sondern als Teil

von menschlich bedingten Prozessen sichtbar. Über das Präsen-

tieren hinaus dokumentiert Foto-

grafie in diesen Fällen die bauli-

chen Auswirkungen politischer

Systeme und sozialer Missstände

und kann damit als ein wichtiges

Medium der kritischen Ausein-

andersetzung mit der Geschichte

und aktuellen Entwicklungen –

und damit der zukünftigen Ge-

staltung der Stadt – dienen.

GEHT MAN DAVON

aus, perma-

nent mit Bildern konfrontiert

und dadurch in der eigenen Er-

fahrung der Realität beeinflusst

zu werden, ist zum einen von einer

Schärfung des Seh- und Wahr-

nehmungsverhaltens durch die

Konzentration auf das Bild, und

zum anderen von einem Verlust

des Kontextes durch den vorgegebenen Ausschnitt auszugehen.

Umgekehrt wird durch die (positive gelenkte) Bilderfahrung erst

die Erwartung auf die wirkliche Begegnung ausgelöst – eine nach

Martina Löw (»Die Soziologie der Städte«, 2008) im Stadtmar-

keting wirksam eingesetzte Praxis, Touristen mit Stadtpanora-

men und Bildern von Skylines zum Besuch anzuregen, um mit

»touristischem Blick«, das erinnerte Bild – die Sehenswürdig-

keit, das Bauwerk – in der Wirklichkeit wieder zu finden und es

dann selbst im eigenen Bild unter Beweis zu stellen. Der Nach-

vollzug der Architektur über die Fotografie funktioniert damit

sogar noch live am dreidimensionalen Objekt.

WANDERARBEITER UND WACHSENDE STÄDTE

Mit einer touristischen Bilderwartung setzt die Bildserie mit

dem Titel »From Somewhere to Nowhere« über Wanderarbei­

ter in China von Andreas Seibert ein: Ein Fotograf ist zu

sehen, der an Touristen Bilder verkauft, Porträts von ihnen

vor den Hochhäusern der Stadt Shenzhen. Die Stadtkulisse

steht für das Wachstum Shenzhens seit der Einrichtung der

Sonderwirtschaftszone in den achtziger Jahren. Die politische

Entscheidung der Öffnung Chinas für den Weltmarkt in jenen

Zonen bildete den Auslöser für das Ausmaß des Zustroms

von Wanderarbeitern aus den ländlichen Gegenden. Andreas

Seiberts Bildfolge erfüllt eine weitere Bilderwartung – er zeigt

die Hochhäuser von Shenzen, Chonqing oder Shanghai – und

bricht sie zugleich: Vor den Wahrzeichen des wirtschaftlichen

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aviso 4 | 2015

ZUKUNFT STADT

COLLOQUIUM

Andreas Seibert © 2015 ProLitteris