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Geschriebenes

Prolog:

Die StadtMölln. DieNacht zum23.11.1992. EinHaus amSiedler-

weg. Das Haus hat drei Stockwerke. In ihr wohnen zwei türkische

Familien. Alle sind miteinander verwandt. Die Großmutter wohnt

im Dachgeschoss des Hauses. In dieser Nacht passt sie auf ihre drei

Enkelkinder auf. Die Eltern sind ausgegangen...

1. Bild

Ein Schwarzbild vor unserenAugen. Die Tonebene ist an.Wir hören

ein Husten. Erst eins, dann drei, dann vier. Von Kindern, Jugend-

lichen. Dann die Stimme einer älteren türkischen Frau.

ÄLTERE FRAU

auf Türkisch

Kinder steht auf! Schnell. Schnell. Es brennt. Aufstehen!!!!

Über die Tonebene hören wir das Knistern eines Feuers.

KIND 1

Oma, ich kann nichts sehen und bekomme keine Luft.

KIND 2

Was sollen wir machen.

ÄLTERE FRAU

auf Türkisch

Ruf die Polizei, ich kann die Nummer nicht wählen und spreche

nicht so gut Deutsch wie ihr...

2. Bild

Es geht das Licht an. Wir können sehen. Wir sind in der Dachwoh-

nung. Aber wir sehen keine Gesichter. Es werden keine Gesichter

gezeigt. Wir sehen die Menschen nur von hinten. Wir sehen ihre

Schritte. Beine. Wenn von vorne, dann so, dass der Betrachter ihre

Gesichter nicht sehen kann im Bild.

Es ist Nacht. Rauch bereitet sich in der Dachwohnung aus. Husten

hier und da. Wir sehen zwei Teenager-Mädchen in ihren Nacht-

hemden hin und her laufen im Flur. Hektisch. Panisch.

ÄLTERE FRAU

auf Türkisch; zu den beiden Teenager-Mädchen

Habt ihr die Nummer gewählt?!

KIND 1

Ja.

KIND 2

Sie kommen.

ÄLTERE FRAU

auf Türkisch

Geht runter.

KIND 2

Wir können nicht. Es brennt im Treppenhaus...

ÄLTERE FRAU

auf Türkisch

Geht ins andere Zimmer und macht die Türen und Fenster zu.

Die ältere Frau öffnet eine Tür. Ein kleiner Junge (3) steht ver-

schreckt in seinemGitterbett. Sie packt das Kind. Dann geht sie mit

demKind ins Bad. Dort nimmt sie einHandtuch undmacht es nass.

Dann wickelt sie das Kind in das nasse Handtuch.

3. Bild

Die ältere Frau geht mit dem kleinen Jungen auf dem Arm in die

Küche. Dort öffnet sie den Kühlschrank und reißt alles, was da drin

ist, raus. Bis der Kühlschrank leer ist. Sie setzt den kleinen Jungen

in den Kühlschrank.

ÄLTERE FRAU

auf Türkisch zum Jungen

Hörmir gut zu, mein Junge! Du bleibst so da drin, bis ichwieder-

komme und dich hole...

Dann schließt sie die Tür vom Kühlschrank.

Dann läuft sie aus der Küche. Durch den Flur.

Das Feuer wird heftiger, größer und intensiver. Aber sie versucht,

sich durchzukämpfen. Sie kommt an die Tür, hinter der die beiden

Mädchen sind. Rauch überall.

Sie öffnet die Tür, wir können nichts mehr sehen, alles ist voller

Rauch. Ein Husten aus allen Ecken des Zimmers. Die ältere Frau

verliert an Kraft, stürmt aber in das Zimmer.

ÄLTERE FRAU

auf Türkisch, stark hustend

Los Kinder!!! Wir müssen raus... – schnell...

Das Feuer übernimmt ab jetzt. Ein lautes Krachen. DieDecke stürzt

ein. Dann, aus weiter Entfernung zu hören, ein Martinshorn.

Alles wird vor unseren Augen chaotisch und undurchsichtig. Das

Rot des Feuers wird durchmischt von dem Blau eines herangeeilten

Feuerwehrautos....

Dannwird es immer stiller und stiller. Nur die gegeneinander arbei-

tenden Lichter: Rot gegen Blau sind zu sehen.

Dann langsame Abblende.

Stille.

Epilog

Die ältere Frau und die beiden Teenager-Mädchen sterben. Der

kleine Junge imKühlschrank überlebt. Sein Name ist Ibrahim.

Das Erbe

Nuran David Calis, *1976 in Bielefeld, ist Theater- und Filmautor und -regisseur türkisch-armenisch-jüdischer Abstammung. Seine Werke und Re­

giearbeiten setzen sich mit sozialkritischen Fragen auseinander wie Migration, Vertreibung und gesellschaftliche Gewalt. Ausgezeichnet u. a. mit

dem Bayerischen Kunstförderpreis 2006 und mit dem Förderpreis der Internationalen Bodensee Konferenz 2016. Calis lebt in München. Näheres

s. Eintrag zum Autor in

literaturportal-bayern.de

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