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Schriftsteller, die wahren Schriftsteller schreiben immer, trai-

nieren ihren Schreib- und Ideenmuskel, auch wenn dieser über-

lastet ist. Man erkennt, dass es Ideen gibt, die einen schnell

beflügeln und erfüllen, die aber nichts taugen. Dann gibt es Ein-

fälle, die erst uninspiriert und hart errungen scheinen, die aber

genau richtig sind. Daher finde ich es wichtig, jeden Tag zu ar-

beiten, und nicht darauf zu warten, dass mich irgendeine Inspi-

ration überkommt. Wenn der kreativeMuskel trainiert

ist, kann er immer arbeiten, auch wenn er müde und

schwach ist. Auch ein erschöpfter Gewichtheber ist

immer noch in der Lage, unglaubliche Gewich-

te zu heben. Wer dagegen nur

Gewichte hebt,

wenn

ihm da-

nach ist, kann

nie Gewichtheber

werden. Jeder kleine

Schritt ist wichtig, wie bei

einemMarathonlauf.Wenn

ich zum Beispiel an einer gro-

ßen Oper schreibe, dann hilft es

mir nicht, ständig darüber nach-

zudenken, wie unendlich vie-

le Notenseiten noch vor mir

liegen, sondern ich teile

das Ganze in „Schritte“

auf. Jeden Tag eine Minu-

te Musik zu schreiben ist

effizienter und besser, als

sich an einem Tag komplett

zu verausgaben und dann mehrere

Wochen lang zu schweigen, weil man

seinen kreativen Muskel verausgabt

hat. Ich höre also ganz bewusst auf,

wenn es „am besten läuft“, wenn

ich noch voller Energie für‘sWei-

termachen bin. Diese Energie

spare ich mir auf für den nächs-

ten Tag, damit ich wieder einen

weiteren Schritt machen kann.

Manch-

malmuss

ich mich

richtiggehend

bemü-

hen, mei-

nen „Mus-

kel“ abzu-

schalten, es gelingt mir

nur, wenn ich mich z. B.

körperlich verausgabe oder

auf etwas anderes konzent-

riere. Ansonsten denke ich

ständig überDutzende von

Stücken nach.

Über die, die

ich gerade

schreibe

(selbst-

verständlich), aber auch über

die, die ich gerne noch schreibenwill. Fürmanche von

diesen Stücken ist der Auftrag noch weit in der Fer-

ne, dennoch stelle ich sie mir imKopf vor, manchmal

jahrelang. Je länger ich nachdenke, desto mehr reifen

die Ideen. Es gibt daher Stücke, über die ich schon so

lange nachgedacht habe (an allen möglichen Orten:

unter der Dusche, beim Fahrradfahren, vielleicht so-

garwährend einer Konversation), dass ich quasi sofort

beginnen kann und nur aufschreibe, was ich im Kopf

schon mehrmals durchgehört habe. Aber es geht auch

anders: Das Stürzen ins unvorbereitete Ungewisse kann

einen Freiheitsrausch erzeugen. Und dieser ist letztlich das,

was mich beim kreativen Arbeiten am meisten befeuert: Das

Gefühl der absoluten Freiheit. Ohne diesen wilden Raum der

Fantasie kann ich nicht atmen und nicht leben, er ist un-

verzichtbarer Teil meiner Existenz.Mit dieser Freiheit

täglich umzugehen – als Gegenwelt zur Realität, die

sich selten „frei“ anfühlt – ist das Schönste an mei-

nemBeruf.

Der kreative Muskel

Prof. Moritz Eggert ist einer der vielseitigsten

und innovativsten Künstler der Neuen Musik

Szene. Als Komponist experimentiert er mit

unterschiedlichen Musikstilen und engagiert

sich für ein Umdenken im Zugang zu zeit-

genössischer Musik. Eggert hat bisher 15

Opern und zahlreiche Werke für alle Genres

geschrieben. Für die Neue Musikzeitung

betreibt er den

Bad Blog of Musick

. Mit dem

Bayerischen Kunstförderpreis wurde er

bereits 1998 ausgezeichnet.

moritzeggert.de

Dominik Wendland ist Grafiker und

Illustrator, der sich seit über zehn Jahren auf

fast täglicher Basis mit dem Medium Comic

auseinandersetzt. Sein Debüt-Comic

Tüti

war 2018 als bester deutscher Comic nomi-

niert und gewann den Bayerischen Kunstför­

derpreis für Literatur. In diesem Jahr erschien

sein neues Werk, die Science-Fiction-

Geschichte

EGOn.