Previous Page  44 / 52 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 44 / 52 Next Page
Page Background

44

Kreativität ist nicht etwas, das man bei Bedarf

komplett abstellen kann. Ich würde es mit ei-

nem Muskel vergleichen. Wir denken nicht

die ganze Zeit über alleMuskeln in unserem

Körper nach, aber jeder dieser Muskeln ist

ständig »bereit«, solange wir (hoffentlich)

gesund sind. Kreativität kann daher wie ein

Muskel trainiert werden, wennman dieWil-

lenskraft dazu besitzt.

Viele denken, dass Kreativität einen »über-

kommt«, dass es eine Art intuitives Geschenk

ist. Aber wenn man sich die Biografien der gro-

ßen Komponistinnen und Komponisten anschaut,

dann siehtman, dass sie besser wurden, jemehr sie den

kreativen Muskel anstrengten. Im Sport spricht man von

Hypertrophie – der Muskel wächst nur, wenn man ihn

überlastet, nicht, wenn man ihn nur angenehm

leicht anstrengt. Bach mag sein wöchent-

liches Abliefern einer Kantate als

Stress und als Last empfunden

haben, aber die unglaub-

liche Routine, die

ihm diese

harte

Arbeit

schenkte,

erleichterte ihm

das Schreiben seiner Meis-

terwerke und steigerte seine

Fähigkeiten als Komponist.

Da die Kreativität sich

nicht vom Künstler tren-

nen lässt, wird sie als

existenziellerwahrgenom-

men als zum Beispiel

das Verrichten einer

Dienstleistung oder

handwerklicheArbeit.

Dadurch entstand

auch das Klischee-

bild des »verrückten«

Künstlers, das gerne

in kitschigen Künstlerbiografien stilisiert

wird. Wer wirklich Komponistin ist, MUSS Komponieren –

die innere musikalische Welt ist so stark präsent, dass man sie

ständig inBewegung haltenmuss, indemman einiges davon aufs

Papier bringt.Wennman zu lange auf einemStuhl sitzt, will man

irgendwann aufstehen und sich bewegen. Genauso geht es mir,

wenn ich zu lange nicht komponiere, es ist fast ein physischer

Drang, komponieren zu müssen.

Ich denke also ständig über Musik nach, ich höre ständig Musik

im Kopf. Das war auch nie anders – schon als Kind war ständig

Musik in mir. Musik, die ich einmal gehört hatte, setzte sich

in mir fort, variierte sich selbstständig. Wenn ich Lust hatte,

z. B. Musik von Mozart zu hören, fiel mir vielleicht

nicht der exakte Wortlaut eines Stückes von Mozart

ein, aber ich konnte mir endlos und fast automatisch

Musik ausdenken (und damit hören), diewieMusik von

Mozart klang. Diese spielte im Hintergrund in meinem Kopf,

auch wenn ich etwas anderes tat. Als ich lernte, Musik zu no-

tieren, fühlte es sich daher fast selbstverständlich an. Für mich

ist die Musik in meinemKopf der Alltag, ich höre sie auch beim

Schreiben dieses Textes, ich brauche dazu keinen CD-Spieler.

Der kreative »Prozess« kannmich also jederzeit und auch unver-

mittelt überfallen.Manchmal mache ichmirNotizen, manchmal

auch bewusst nicht. Manche Ideenmüssen reifen, wie guteWei-

ne.Wenn sie gut sind, werden sie sich immer wieder aufdrängen,

immer stärker werden, die schlechten Ideen vergisstmanwieder.

Irgendwann lernt man, dass die wahre Kreativität erst dann be-

ginnt, wenn sie an ihre Grenzen stößt. Schriftsteller, die nur

schreiben, wenn ihnen »etwas einfällt«, sind keine richtigen

Art Slam

Der kreative

Muskel

Text: Moritz Eggert

Illustration: Dominik Wendland

Art Slam