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aviso 1 | 2019
FRAUEN. GLEICHE CHANCEN – ANDERE MÖGLICHKEITEN
COLLOQUIUM
JULIA LEEB
Was ist Ihnen wirklich wichtig?
Meine Arbeit ermöglicht mir, Aufmerksamkeit zu
erregen und langfristig Bewusstsein zu schaffen.
Ziel meiner Arbeit ist es, Lösungen zu finden. Da
für muss ich Konflikte von allen Perspektiven ver
stehen und die jeweiligen Parteien identifizieren.
Mithilfe von Zeitungsartikeln, Fernsehreportagen,
Ausstellungen und natürlich Fotografien kann ich
Menschen in vergessenen Regionen ein Sprachrohr
geben, das sie normalerweise nicht haben. Ich fin
de es wunderbar, wenn aus einer Reportage etwas
Positives erwächst. Wenn sich zumBeispiel jemand
entscheidet, eine Schule mit zu finanzieren. Dann
weiß ich, dass es nicht nur diese Kinder sind, die
dadurch gestärkt werden, sondern später einmal
auch deren Kinder. Teilzuhaben an diesem Kreis
lauf, ist unglaublich. Ich habe das große Glück, um
in Goethes Worten zu sprechen, Wahlverwandt
schaften zu haben. Auf der ganzenWelt. In meiner
Kindheit habe ich immer mit Kindern aus ande
ren Ländern gespielt. Meine Mutter hat nach der
Tschernobyl-Katastrophe Kinder aus Weißrussland
bei uns aufgenommen. Von daher habe ich schon
früh gelernt, offen zu sein und andere Kulturen
zu verstehen. Ich habe gelernt, mit Menschen zu
kommunizieren, mit denen ich mich nicht unter
halten konnte. Meine gesamte Kindheit hindurch
hatte ich das Verlangen, die Welt zu entdecken. Ich
war von Pippi Langstrumpf beeinflusst – Struk
turen durchbrechen, die dich daran hindern, dein
Leben voll auszuschöpfen, und dem nachgehen,
was wirklich wichtig ist. Imstande zu sein, eine
Verbundenheit mit Menschen und Orten überall
auf der Welt zu schaffen, ist ein großes Geschenk.
Es bedeutet, dass ich mich nie allein fühle. Die
Arbeit nimmt mir viel, aber die Menschen, die
ich fotografiere, geben mir auch viel. Obwohl sie
in extremen Situationen, wie Kriegen, nicht wis
sen, wie viel Zeit ihnen bleibt, teilen sie wertvolle
Augenblicke mit mir. Ich treffe immer wieder die
inspirierendstenMenschen, die mit nichts als ihrer
Willenskraft das Unmögliche schaffen. Diese Er
lebnisse haben mich viel über die Kraft gelehrt,
die nur Menschen besitzen, welche ihren eigenen
Verstand gebrauchen und Initiative ergreifen. Ich
habe gelernt, dass du, sobald sich etwas in deinem
Kopf manifestiert, nur einen Schritt von seiner
Umsetzung entfernt bist. Das hat dafür gesorgt,
dass auch ich in der Lage bin, mein Leben nach
meinen eigenen Vorstellungen zu leben. Viele Leute
fragen mich, ob ich auf meinen Reisen manch
mal Angst habe. Die Antwort ist: natürlich. Wenn
ich keine Angst hätte, würde ich mich leichtsin
nig verhalten. Manchmal warnt mich die Angst –
manchmal muss ich versuchen, sie zu bändigen. Es
ist ein ewiges Wechselspiel, wer wen kontrolliert.
In meiner Arbeit richte ich meinen Fokus oft in-
stinktiv auf Frauen. Immer wieder sehe ich gewisse
Muster. Frauen wird vor allem in Krisensituatio
nen die Stimme entzogen. Das ist doch verwun
derlich, denn es sind die Frauen, welche die Ge
sellschaft organisieren, wenn die Männer an der
Front sind. Wenn eine Schule zerstört wird, gibt es
immer irgendwo eine Frau, die den Unterricht in
ihren Keller verlegt und wie gewohnt weitermacht.
Egal wo ich bin, sehe ich Frauen, die Essen kochen,
Gute-Nacht-Geschichten erzählen und versuchen,
einen Alltag aufzubauen. Es sind die Frauen, die
das Leben am Laufen halten. Es sind die Frauen,
die als Erste vergeben und sich dann auf die Zu
kunft konzentrieren. Doch Frauen sitzen nicht mit
am Tisch, wenn über die Zukunft des Landes ver
handelt wird. Das muss sich ändern.
Was würden Sie in der Welt verändern, wenn Sie könnten?
Ich wünschte, die Menschen könnten die destruk
tive Kraft ihrer Impulse erkennen und gegensteu
ern. Ich wünschte auch, dass die Menschen sich
besser verständlich machen könnten. Einige der
schlimmsten Gräueltaten auf dieser Welt sind uns
unbekannt, weil sie sich an entfernten Orten wie
Nordkorea oder dem Kongo abspielen. Wir sehen
von Weitem auf bestimmte Regionen und sagen,
wir verstünden nicht, warum bestimmte Dinge
passieren. Aber es gibt immer einen Grund, und
meistens ist es ein ganz alltäglicher: Jemand fühlt
sich missverstanden oder unfair behandelt oder
in seinem Stolz beziehungsweise seiner Ehre ge
kränkt. Deshalb ist es so wichtig, in Kontakt zu
bleiben. In Wirklichkeit ist es so, dass man man
che Konflikte schon in ihren Anfängen ersticken
könnte. Wenn die Menschen sich besser verständ
lich machen könnten, würden sie das meiner Mei
nung nach auch erkennen.
Wählen Sie ein Wort, das Sie beschreibt.
Kreativität.
Julia Leeb
wurde in München geboren. Sie studierte
Internationale Beziehungen und Diplomatie in Madrid,
Arabisch in Alexandria sowie Fernsehen und Digitale
Medien in München. Heute arbeitet sie als Fotojour-
nalistin und Filmemacherin und hat den Bildband
»North Korea: Anonymous Country« herausgebracht.
Leebs Langzeitprojekte wurden international veröf-
fentlicht und dokumentieren die politischen Unruhen
im Kongo, in Ägypten, Syrien, Libyen, Afghanistan, im
Südsudan und im Iran. Außerdem produziert sie Vir-
tual Reality- und 360-Grad-Aufnahmen von entle-
genen Gebieten wie Transnistrien in Moldawien und
den Nuba-Bergen im Sudan.