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Text:
Ingvild Richardsen
Um 1900 war München eine der bedeutendsten Kunstmetropolen Europas.
Scharen von Künstlern und Schriftstellern zogen in die Residenzstadt, die damals
als die geistig freieste und kunstsinnigste deutsche Stadt galt. Zusammenhän
gend damit bildete sich hier eine einzigartige Szene der Frauenbewegung, der es
schnell gelang, ab 1899 ein Netzwerk über ganz Bayern zu spannen. 1900 stand
München als Flaggschiff der modernen Frauenbewegung in Bayern da.
Anita Augspurg, Sophia Goudstikker, Ika Freudenberg, Emma Merk, Marie Hausho
fer, Helene Böhlau u. v. a. Frauenrechtlerinnen, Schriftstellerinnen, Künstlerinnen
sammelten sich im
Verein für Fraueninteressen
. Einzigartig an der bayerischen
Frauenbewegung war das Engagement so zahlreicher Künstlerinnen und Schriftstel
lerinnen, viele von ihnen Berühmtheiten im deutschen Kaiserreich, viele veröffent
lichten, etwa Carry Brachvogel, Elsa Bernstein, Maria Janitschek, Gabriele Reuter,
Emmy von Egidy oder Annette Kolb, beim renommierten S. Fischer-Verlag in Berlin,
dem Verlag der »literarischen Moderne«. Die Münchner Frauenbewegung stand
in engstemAustausch mit den Vertretern der »Moderne« und gewann weite Teile
des Bürgertums, Gelehrte, Künstler und Industrielle für sich. Wichtiges Ziel war
es, neben der gegenseitigen Unterstützung im Zusammenschluss von den Netz
werken der Männer zu profitieren und diese davon zu überzeugen, aktiv für Frau
enrechte einzutreten – für Selbstbestimmung von Frauen durch Bildung und Be
ruf, ihre finanzielle Unabhängigkeit, für gleiche Entlohnung von Männern und
Frauen. Die Gesellschaft sollte gemeinsam mit den Männern erneuert werden.
Visionen, Ideen und Netzwerke dieser Frauen fanden 1933 ein jähes Ende. Sie alle
wurden von den Nationalsozialisten in den beruflichen und persönlichen Ruin
getrieben, viele von ihnen: verfolgt und getötet. Ihre Bücher wurden verbrannt,
Nachlässe vernichtet, die Häuser, in denen sie sich getroffen hatten, zerstört. Eine
liberale und progressive Frauen-Kultur wurde ausgelöscht. Dieses Zerstörungs
werk der Nationalsozialisten wirkt bis heute, ist sichtbar und unsichtbar zugleich,
ist dafür verantwortlich, dass diese Frauen mit ihrenWerken und Ideen aus dem
öffentlichen Gedächtnis gelöscht sind.
Anfänge
Mit der Gründung des
Allgemeinen deutschen Frauenvereins
(ADF) hatte die bür
gerliche Frauenbewegung 1865 in Leipzig ihren Anfang genommen. Ihre Vertreter-
innen griffen die geltenden Rollenvorstellungen an und traten für das Recht auf
Bildung und Beruf für Mädchen und Frauen ein. Von der organisierten Frauen
bewegung blieb der Süden des deutschen Reiches lange unberührt. Der Beitritt
zu politischen Vereinen war Frauen nach den bayerischen und preußischen Ver
einsgesetzen seit 1850 verboten, einen entsprechenden Bundesbeschluss gab es
seit 1854. Immerhin wurden 1893 in Nürnberg zwei Vereine mit der Absicht ge
gründet, die Ziele der bürgerlichen Frauenbewegung zu vertreten.
Das Fotoatelier Elvira – Keimzelle der Münchner Frauenbewegung
1887 eröffneten in der Schönfeldvorstadt Anita Augspurg und ihre Freundin
Sophia Goudstikker ihr Foto-Atelier
Elvira
. Im Herbst 1886 von Dresden nach
München gezogen, hatten sie sich als Fotografinnen ausbilden lassen. Unverhei
ratet, mit Kurzhaarfrisur (Tituskopf), in einer gleichgeschlechtlichen Partner
schaft lebend, verkörpern die beiden Unternehmerinnen einen neuen Typ Frau.
Bald hat es Event-Charakter, sich in dem unkonventionell geführten Atelier in der
Von-der-Tann-Straße 15 fotografieren zu lassen. Künstler und Schriftsteller bei
den Geschlechts, aber auch Aristokraten, Militärangehörige, Beamte, Kaufleute
und Bildungsbürger zählen bald zur Kundschaft, unter ihnen auch die bekannte
Schriftstellerin Emma Merk. Sie, die gleich um die Ecke wohnt, steht ebenso
wie Anita Augspurg mit dem Sozialdemokraten Georg von Vollmar in engem
linke Seite
Rekonstruierte Originalfassade des
Ateliers Elvira.
reche Seite oben
Anita Augspurg.
Foto-Porträt von R. Dürkoop-Hamburg.
darunter
Porträt von Carry Brachvogel.
Aufnahme vom 1.3.1903 von Philipp Kester.
© KWNeun/Augsburg | In: Das Atelier des Photographen. Jg. 1904, Nr. 7 | Stadtmuseum München, FM-8761-1014-9
aviso 1 | 2019
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