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Foto: Judith Kinitz
Über, in und um die Künste –
Nora Gomringer meint
Nora Gomringer, Schweizerin und Deutsche, lebt in Bamberg. Sie
schreibt, vertont, erklärt, souffliert und liebt Gedichte. Alle Mündlich-
keit kommt bei ihr aus dem Schriftlichen und dem Erlauschten. Sie
fördert im Auftrag des Freistaates Bayern Künstlerinnen und Künstler
internationaler Herkunft. Dies tut sie im Internationalen Künstlerhaus
Villa Concordia. Und mit Hingabe.
nora-gomringer.deKunst! Du!
Kunst! Du!
In der ehrwürdigenGalerie Tate Britain in London
werden dieMänner ab- und die Frauen aufgehängt.
Was zunächst martialisch, gar barbarisch klingt, ist
der Versuch, eine Blickkorrektur vorzunehmen.
Aber anders begonnen: Als Kind war ich »stab-
sichtig«. Das Licht bündelte sich hinter meiner
Pupille zu Stäben, so die lapidare Erklärung in ein-
facher Sprache für das nachfragende Neugierkind.
Ich trug eine Brille und liebte sie, bis mir mit etwa
12 Jahren auffiel, dass ich sehr gut sehen konnte
und sie immer öfter ablegte. Der Kinderarzt sag-
te damals voller Stolz, er hätte das gewusst! Mit
der Pubertät und der entsprechenden Brille würde
sich das Phänomen auswachsen. Nun, voilà! Ich bin
brillenlos durch Jugendzeit und Adoleszenz, Stu-
dium und Arbeitswelt gewandelt. Hip und trendy
wie ich bin, setze ich mir große, seltsame Modelle
gernemal auf, wenn ichmich nicht schminken will.
Da gibt es dann einiges an spöttischer Nachrede zu
ertragen. Aber das geht. Das ist ein Accessoire, das
kann man ablegen. Nun. Wie kriege ich die Kurve
zur Tate?
Wie viele Feministinnen meines Alters stehe ich
zwischen den Stühlen, die alle Feministinnen,
die älter sind als ich, kennen. Es ist ein Schwellen-
und damit Altersphänomen, das einen um die 40
einholt: den Jungen ist man nicht radikal genug,
den alten auch nicht. Alle sehen »ihren« Kampf
als verraten an, man selbst steht da rum in der
40er-Schleuse und tritt auf der Gedankenstelle.
Was will ich, was habe ich bereits erlebt und will
es deshalb auf keinen Fall mehr, wer will ich sein
in den nächsten 20 Jahren? Und wer bin ich über-
haupt? Diese lästige, pubertäre Frage zieht sich
rotfadengleich durchs Leben. Kannman nichts ma-
chen. Manchmal einen Antwortversuch in ein Ta-
gebuch kritzeln und sich wundern. In der Tate also
haben sie beschlossen, dem Betrachter die Augen
zu öffnen und diesen Prozess zu beschleunigen. Die
»Kulturaugen« oder besser, die Augen und Ohren
und Sinne, mit denen wir Kultur aufnehmen, be-
werten, tradieren, gilt es zu öffnen. Ich lerne Män-
ner und Frauen kennen, die haben noch nie aktiv
ein Buch von einer Frau gelesen oder können aus
ihren eigenen Lektüren – und oft sind sie stolz auf
ihre Belesenheit! – nicht 3 Titel aus demGedächt-
nis zitieren, die von einer Frau geschriebenworden
wären. Das zeigt mir vor allem an, wie natürlich es
für uns ist, hauptsächlich dieWerke der Kultur, die
vonMännern geschaffenwurden, aufzunehmen. Es
wird auch leicht gemacht. In meinem Schulmusik-
unterricht habe ich von genau einer Komponistin
gehört: Clara Schumann. Die Entscheidung der
Tate, ausschließlich »Frauen zu hängen«, also die
Bilder und Installationen von britischen Künst-
lerinnen noch bis zum nächsten April zu zeigen,
ist richtig. Vielleicht nicht richtig für ältere, weiße
Frauen und Männer, deren Wege sie immer wie-
der in dieselben gedanklichen Salons führen, aber
für die zahlreichen »stabsichtigen« Mädchen und
Jungs, die mit etwa 12 Jahren ihre Brillen ablegen,
weil sie feststellen, dass sie ihrer Seh- und damit
Urteilskraft vertrauen wollen und können, ist es
perfekt. Gehen Sie sich diese schöne neueWelt an-
sehen, vielleicht gefällt Sie Ihnen sogar (besser)!