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aviso 1 | 2018
SKIZZE UND IDEE
COLLOQUIUM
Text:
Ulrich Konrad
m Anfang steht ein Ton. Ihn zu setzen ist
keine Kunst. Jeder vermag es. Ihm einen
zweiten hinzuzufügen, verlangt Entschei-
dungen: Folge oder Zusammenklang, höher, tiefer,
wie viel höher, wie viel tiefer, kürzer, länger, wie
viel kürzer, wie viel länger? Mit dem zweiten Ton
beginnt das Komponieren, das – wörtlich verstan-
den – Zusammensetzen von Tönen zumelodischen
Linien oder zu Klängen. Und mit jedem weiteren
Ton wachsen die Möglichkeiten des Anfügens und
Kombinierens. Wie in der Weizenkornlegende, nach
der auf das erste Feld eines Schachbretts ein Korn,
auf das zweite Feld das Doppelte, auf das dritte
Feld nochmals das Doppelte gelegt werden sollte
und so weiter. AmEnde würde eine nach Trillionen
zählende Menge an Körnern aufgehäuft sein. Dass
die Musik die versteckte arithmetische Tätigkeit
des Geistes bei dessen gleichzeitigemNichtwissen
darüber sei, meinte GottfriedWilhelmLeibniz im
frühen 18. Jahrhundert. Solche Rationalität miss-
fällt jenen, die das »Machen« vonMusik lieber im
Reich des Numinosen ansiedelnmöchten. Goethe
etwa fand den sprachlichen Ausdruck Komponieren
»ein ganz ungehöriges Wort […] Wie kann man
sagen, Mozart haben seinen ›Don Juan‹
kompo-
niert! – Komposition
– als ob es ein Stück Kuchen
oder Biskuit wäre, das man aus Eiern, Mehl und
Zucker zusammenrührt!«
linke Seite
Abb. 1: Johann Strauß,
Die Fledermaus, Ouvertüre.
Erste Seite der autographen Partitur – 15 Minuten Schreibzeit für
7 Sekunden Musik.
unten
Abb. 2: Richard Wagner,
Tristan und Isolde, 2. Akt, 2. Szene.
Liebesnacht. Erster, später verworfener Einfall zu einem zentralen
Moment des Dramas.
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© Wagner, Wieland (Hg.): Hundert Jahre Tristan - Neunzehn Essays, Emsdetten, Lechte, 1965 S. [84]