Table of Contents Table of Contents
Previous Page  23 / 52 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 23 / 52 Next Page
Page Background

|23 |

aviso 1 | 2018

SKIZZE UND IDEE

COLLOQUIUM

Text:

Ulrich Konrad

m Anfang steht ein Ton. Ihn zu setzen ist

keine Kunst. Jeder vermag es. Ihm einen

zweiten hinzuzufügen, verlangt Entschei-

dungen: Folge oder Zusammenklang, höher, tiefer,

wie viel höher, wie viel tiefer, kürzer, länger, wie

viel kürzer, wie viel länger? Mit dem zweiten Ton

beginnt das Komponieren, das – wörtlich verstan-

den – Zusammensetzen von Tönen zumelodischen

Linien oder zu Klängen. Und mit jedem weiteren

Ton wachsen die Möglichkeiten des Anfügens und

Kombinierens. Wie in der Weizenkornlegende, nach

der auf das erste Feld eines Schachbretts ein Korn,

auf das zweite Feld das Doppelte, auf das dritte

Feld nochmals das Doppelte gelegt werden sollte

und so weiter. AmEnde würde eine nach Trillionen

zählende Menge an Körnern aufgehäuft sein. Dass

die Musik die versteckte arithmetische Tätigkeit

des Geistes bei dessen gleichzeitigemNichtwissen

darüber sei, meinte GottfriedWilhelmLeibniz im

frühen 18. Jahrhundert. Solche Rationalität miss-

fällt jenen, die das »Machen« vonMusik lieber im

Reich des Numinosen ansiedelnmöchten. Goethe

etwa fand den sprachlichen Ausdruck Komponieren

»ein ganz ungehöriges Wort […] Wie kann man

sagen, Mozart haben seinen ›Don Juan‹

kompo-

niert! – Komposition

– als ob es ein Stück Kuchen

oder Biskuit wäre, das man aus Eiern, Mehl und

Zucker zusammenrührt!«

linke Seite

Abb. 1: Johann Strauß,

Die Fledermaus, Ouvertüre.

Erste Seite der autographen Partitur – 15 Minuten Schreibzeit für

7 Sekunden Musik.

unten

Abb. 2: Richard Wagner,

Tristan und Isolde, 2. Akt, 2. Szene.

Liebesnacht. Erster, später verworfener Einfall zu einem zentralen

Moment des Dramas.

2

© Wagner, Wieland (Hg.): Hundert Jahre Tristan - Neunzehn Essays, Emsdetten, Lechte, 1965 S. [84]