AVISO 03/22: Kunst verändert Gesellschaft

Das Erklärstück Das Erklärstück – Heilende Kleidung Ursula Wiest: Körperzuträgliche Kleidung mit dem Poten- tial, eine Aura von Zärtlichkeit, Selbstfürsorge und Schutz zu erzeugen. Akupressurfähige, wollene Schutzanzüge in sanf- ten, naturnahen Farben. Wie stellen Sie all dieses her? Laura Deschl: Die Materialität meiner Bodysuits kombiniert stets ein hochwertiges Hauptgarn, beispielsweise Merinowolle, mit einer Kompressionskomponente, um die therapeutische Wirksamkeit negativer Elastizität zu nutzen. Die Farbkarte für das Design wurde von alten Akupunkturzeichnungen aus China übernommen und lädt den:die Träger:in mit ihren sub- tilen und weichen Tönen ein, sich mit dem Gefühl von Kom- fort, Sicherheit und Gesundung zu verbinden. Das Muster eines mehrfarbigen Bodysuits grenzt mit seiner organischen Linienführung verschiedene Körperteile visuell voneinander ab, die mit den Meridianen aus der Philosophie der Traditio- nellen ChinesischenMedizin korrelieren. So hilft es, relevante Druckpunkte zu erspüren. Die weichen komprimierenden Garne umfangen den Körper des Trägers und sorgen dafür, dass die ins Gewebe eingebrachten Massagekügelchen mit der Haut interagieren. Technisch fokussiere ich mich aktuell auf die Methodik des industriellen Stricks, bei dem Textilin- genieur:innen die Schnittteile programmieren, die wiederum von einer Maschine gestrickt, mit Dampf gebügelt und zu- sammengenäht werden. Dieses Vorgehen erlaubt, durch die Auswahl des Strickgarns auf kleinster Ebene das Potential der Funktionalität maximal auszuschöpfen. Sanft coloriert, alt-chinesisches Heilwissen in sich tragend. Von unsichtbaren Labyrinthen zwischen Ober- und Unter- stoff durchzogen, um Pforten und Wege für therapeutische Interventionen zu schaffen. Was leistet ein solches, mehrfach kurativ kodiertes Kleidungsstück für die Person, die es trägt? Die haptische Interaktion zwischen dem Körper des Trägers und dem Relief, das durch die Kombination des Textils mit den Massagekugeln entsteht, kann eine Reihe von verschie- Dr. Ursula Wiest ist Literaturwis- senschaftlerin und Mitarbeiterin des Thea Kulturklubs der Theatergemeinde München. Laura Deschl ist Designerin mit sozialem Fokus und künstlerische Forscherin mit einem Hintergrund in Mode und Textilien. Ihre Leidenschaft ist es, komplexe soziale Themen zu untersuchen, indem sie Systeme wie beispiels- weise das Gesundheitssystem hinterfragt. Das Stipendium Junge Kunst und neue Wege hat sie u. a. für die Erstellung einer Material- bibliothek und intensive Forschungen zu haptischen Methoden zur Stressreduktion und Förderung von Wohlbefinden verwendet. In alten Zeiten, als das Wünschen noch half, waren es wissende, zauberkundige Frauen, die mit Garnwerken von Spinnrocken, Webstuhl oder Nadelspiel die Geschicke gefährdeter Königs- kinder zum Besseren wandten. Heute erschafft jemand wie Textilkünstlerin Laura Deschl auf einer programmierbaren Industriestrickmaschine haltgebende Merinowollhüllen für die berührungsentwöhnten Körper verletzter, postdigital geprägter Seelen. Ursula Wiest: Bildrechte bei Ursula Wiest, Vogelwild und Andres 12

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