AVISO 04/21

Geschriebenes Ulrike Anna Bleier Falls das Leben einen Sockel hat, auf dem es steht, falls es eine Schale ist, die man füllt und füllt und füllt – dann steht meine Schale ohne jeden Zweifel auf dieser Erinnerung. Sie handelt da- von, halb schlafend, halb wach, im Kinderzimmer in St. Ives im Bett zu liegen. Sie handelt davon zu hören, wie die Wellen sich brechen, eins, zwei, eins, zwei, und einen Wasserschwall über den Sand schäumen lassen; und sich dann wieder brechen, eins, zwei, eins, zwei, hinter einem gelben Rouleau, schreibt Virginia Woolf in ihr Tagebuch. Diese Beschreibung ähnelt in frappierender Weise einer Er- innerung, die Katharina Grosse fast ein Jahrhundert später ihrer Ausstellung Wunderbild in der Prager Nationalgalerie vorangestellt hat: Wie sie als Kind morgens im Bett lag und die ins Zimmer strömenden Farben und Formen, Lichter und Schatten an derWand beobachtete, und sie inGedanken nach- zeichnete und ausmalte. Man sieht Katharina Grosses Wun- derbild diese Kindheitserinnerung an, und auch in Virginia Woolfs umfangreichemWerk findet sich das Grundrauschen aus dieser ersten geisterhaften Begegnung mit dem Brechen der Wellen. Am Anfang war die Ahnung, das Ungefähre, das Verschwom- mene und daraus entsteht, mit etwas Glück, etwas, das Form annimmt. Der erste Impuls, etwas zu erschaffen, entstammt einer Zwischenwelt, in der man sich halb schlafend, halb wach befindet, man hört etwas, man sieht etwas, man riecht etwas, man denkt etwas. Und dann passiert es: nämlich erstmal nichts. Natürlich entsteht nichts aus dem Nichts. Auch die Welt ist nicht aus demNichts entstanden, sondern aus demChaos, und das besteht immerhin aus sehr viel. Mit Chaos ist gemeint, dass etwas noch keine Form hat, noch nicht in Bezug gesetzt ist. Dass es keine stabile Verbindung zu einem anderenNichts oder zu einem anderen Etwas hat. Wie dieser Text stochert das Nichts imDunklen. Wo ist etwas Konkretes, Lebendiges, vielleicht etwas Poetisches, an dem ich mich orientieren kann. Muss ich es erst erschaffen oder ist es schon da, ich muss es nur finden? Ich persönlich schreibe, wie ich lebe, ich weiß nicht, was morgen kommt, habe aber eine vage Vorstellung davon und orientiere mich an den Schatten und Formen an der Wand. Ob sich diese am Ende in Sprache umsetzen lassen, ist eine andere Sache. Irgendwo muss es die Verbindung zwischen Ahnung und Wirklichkeit geben, ich weiß, dass sie da ist; nur ich kann sie nicht sehen. Vielleicht ist aber auch diesesWissen nichts anderes als ein Schatten an der Wand und erst, wenn eine Verbindung Gestalt angenommen hat, wirkt sie so ver- traut, als wäre sie schon immer da gewesen; ein bisschen so, wie wennman sehr früh amMorgen auf einer AlmwieseMagic Mushrooms sucht und sucht und sucht und wenn man gegen Mittag den ersten Pilz gesehen und verzehrt hat, sieht man von einer Sekunde auf die andere alle anderen und zwar mit einer Klarheit, die vor zehn Sekunden noch unvorstellbar war. Am besten wachsen Zauberpilze übrigens im warmen Kuhdung – und gedeihen dort, neben seltenen Käfern und Bakterien, nicht auch künstlerische Ideen am besten? Habe ich also mit Ausdauer, einer gewissen Risikofreude und der Bereitschaft, demütig imKuhmist zuwühlen, endlich diese eine Verbindung gefunden und hergestellt und zeige sie stolz der Welt, sagt dieWelt dann endlich Ach wie schön? Oder sagt sie Hä? Das soll Kunst sein? Es kann ja wohl jeder ein blaues Pferd malen oder sich kostümiert selbst photographieren oder ein Gebäude verhüllen! Das blaue Pferd von Franz Marc zum Beispiel wurde in der ersten Ausstellung 1911 von den Münchnern geschmäht, ja sogar bespuckt, sie mochten die Idee eines beseelten Tieres überhaupt nicht, aber heute, heute ist es das beliebteste Ge- mälde im Lenbachhaus. Die Idee vonMagicMushrooms ist natürlich nicht, dass etwas Relevantes dabei herauskommt. Sondern dassman etwas sieht, was man vorher nicht gesehen hat. Und wenn es nur Magic Mushrooms sind. Was die Pilze leider nicht verraten: Wie man die Welt davon überzeugt, ebenfalls in Dung zu starren. Irgendwann. Ulrike Anna Bleier lebt in Köln und in der Oberpfalz als Schriftstellerin, Journalistin und Moderatorin. 2016 erschien ihr Debütroman Schwimmerbecken, der auf der Hotlist der zehn besten Bücher aus unabhängigen Verlagen gelistet wurde. 2018 folgte mit Bushaltestelle ihr zweiter Roman, beide sind erschienen im lichtung verlag. Für ihre Kurz­ geschichten und Romane wurde sie mehrfach ausgezeichnet, zuletzt für ihr Romanprojekt Spukhafte Fernwirkung mit dem Dieter-Wellershoff-Stipendium der Stadt Köln, einem Arbeitsstipendium der Kunststiftung NRW und dem Québec- Austauschstipendium des Bayerischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst. Über ihren Aufenthalt in Québec im Herbst 2021 schrieb sie im Blog #SiXHOURSLATER S literaturportal-bayern.de/literarische-notizen-aus-quebec Ulrike Anna Bleiers eigener Blog: bleier-online.de/category/whereaminow Eine Ahnung 48

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